Der Widerstand schweißt die Ukraine zusammen und stärkt die ukrainische Staatsbürgernation, sagt der Historiker Andreas Kappeler im Gastkommentar.

Von Kämpfen zerstörte Gebäude gegenüber einem Denkmal für Taras Schewtschenko in Borodjanka in der Oblast Kiew. Der ukrainische Nationaldichter (1814–1861) protestierte in seinen Werken gegen soziales Unrecht und Unterdrückung im Zarenreich.
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Wir bewundern den tapferen Widerstand, den die ukrainische Armee und das ukrainische Volk der brutalen Invasion Russlands entgegensetzen. Auch Wladimir Putin hatte nicht damit gerechnet. Plötzlich sind die Ukrainer, die bis vor wenigen Jahrzehnten im westlichen Ausland weitgehend unbekannt waren und die vielen als Ableger der Russen galten, jeden Tag in den Schlagzeilen. Womit, fragt man sich, kann man diesen unerwartet heftigen und partiell erfolgreichen Widerstand erklären? Gibt es historische Traditionen, an die man anknüpft?

Die Ukrainer waren in Mittel- und Westeuropa nicht immer unbekannt, im 17. und 18. Jahrhundert beschäftigten sich zahlreiche Zeitungen und Bücher mit der Ukraine. Als wichtigstes Charakteristikum der Ukrainer gilt ihnen die Freiheitsliebe. Das bezog sich in erster Linie auf die ukrainischen Kosaken, die mit ihren Feldzügen gegen die Krimtataren, die Türken und Polen und als Anführer von Volksaufständen hervortraten. Diese Gemeinschaften von freien Kriegern standen für Freiheit und Gleichheit und für bewaffneten Widerstand. Prinzipien, die mit dem autokratischen Russland nicht vereinbar waren.

Lebendiger Mythos

Nachdem die meisten Gebiete der Ukraine und mit ihnen die Kosaken unter russische Herrschaft gekommen waren, verschwanden sie aus der Geschichte. Lebendig blieb der Kosakenmythos. In der ukrainischen Volksliteratur werden die Heldentaten der Kosaken besungen, und sie finden sich wieder im Werk des Nationaldichters Taras Schewtschenko. Bis heute trifft man im ukrainischen Alltag auf Kosaken, als Souvenirs und in Restaurants. Das Bildnis zweier Kosakenführer findet sich auf Banknoten. Die kosakischen Werte von Freiheit, Demokratie, Individualismus und Spontaneität werden in der nationalen Ideologie dem Kollektivismus, der Unterwürfigkeit, Autokratie und sozialen Disziplin der Russen entgegengesetzt.

Die Schicksalsgemeinschaft

Neben die Kosaken tritt die polnische Tradition von Freiheit und Gleichheit, die auf die Ukraine einwirkte. Die Ukraine gehörte während drei beziehungsweise viereinhalb Jahrhunderten zu Polen. Ihre Geschichte verlief in dieser Zeit getrennt von Russland. Die in Europa einzigartige soziopolitische Verfassung Polens, die "Goldene Freiheit", war mit der zentralisierten Zarenautokratie ebenfalls nicht vereinbar.

Im 19. Jahrhundert, als der größte Teil Polens an Russland gefallen war, erhoben sich die Polen 1830 und 1863 bewaffnet gegen die russische Herrschaft. Die Aufstände wurden niedergeschlagen und lösten in Mittel- und Westeuropa eine Welle der Solidarität aus. Ihre Devise "Für eure und unsere Freiheit" zeigt Parallelen zum gegenwärtigen ukrainischen Widerstand gegen Russland. Trotz aller historischer und politischer Konflikte zwischen Ukrainern und Polen gibt es eine Schicksalsgemeinschaft, die heute in der bereitwilligen Aufnahme von unzähligen geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern in Polen ihren Ausdruck findet.

Nicht zufällig treten die Kosaken in der ukrainischen Nationalhymne hervor, deren Beginn sich an die polnische Nationalhymne ("Noch ist Polen nicht verloren") anlehnt:

"Noch ist die Ukraine nicht gestorben, nicht ihr Ruhm und ihr Wille."

Die Hymne endet mit dem Refrain:

"Seele und Leib werden wir für unsere Freiheit opfern, und wir werden zeigen, Brüder, dass wir zum Stamm der Kosaken gehören."

Erfolgreicher Protest

Für den bewundernswerten Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer sind die Erfahrungen der Orangen Revolution (2004) und des Euromaidan (2013/14), der in der Ukraine als "Revolution der Würde" bezeichnet wird, von kaum zu überschätzender Bedeutung.

Es handelte sich um die größten zivilgesellschaftlichen Massenbewegungen in Europa seit dem Zerfall des sogenannten Ostblocks. Die Ukrainerinnen und Ukrainer machten die Erfahrung, dass ihr Widerstand Erfolg hatte: Die gefälschten Präsidentenwahlen von 2004 wurden annulliert, und der Euromaidan erreichte seine Ziele, den Sturz des korrupten russlandfreundlichen Präsidenten und die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union.

Die Massenkundgebungen standen unter dem Zeichen der ukrainischen politischen Nation von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern und überwanden damit die scheinbare Spaltung in einen ukrainischsprachigen Westen und einen russischsprachigen Osten und Süden. Auf dem Maidan wurde viel Russisch gesprochen, ebenso wie heute unter den ukrainischen Soldaten und Geflüchteten. Die von Putin erwartete Solidarisierung der russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainer mit der russischen Armee blieb aus.

Mit der Annexion der Krim und dem bewaffneten Eingreifen Russlands im Donbass begann ein achtjähriger Krieg, der 14.000 Todesopfer forderte. Man vergisst zuweilen, dass der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht erst im Februar 2022, sondern schon im März 2014 begann. In diesem Krieg gegen Russland und die von ihm unterstützten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk wurden der Widerstandswille und die Kampfkraft der Ukrainer wesentlich gestärkt.

Der Kosakenmythos, das Vorbild der polnischen Adelsrepublik, der zivilgesellschaftliche Massenprotest der Jahre 2004 und 2013/14 und die Erfahrung des achtjährigen Krieges haben dazu beigetragen, dass sich die ukrainische Armee und die gesamte ukrainische Bevölkerung heute so erbittert gegen Russland zur Wehr setzen. Der Widerstand schweißt die Ukraine zusammen und stärkt die ukrainische Staatsbürgernation, die sich endgültig gegen Russland und für Europa entschieden hat. Damit hat Putin das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen wollte. (Andreas Kappeler, 15.4.2022)