Ökonom Edoardo Campanella schreibt in seinem Gastkommentar, wie gefährlich der Blick in vergangene Zeiten sein kann.

Vor der Pandemie war Nostalgie weltweit eine starke politische Kraft. Donald Trump kam mit dem Versprechen an die Macht, "Amerika wieder groß zu machen", und die Brexit-Befürworter gewannen ihre Schlacht zum Teil auch durch die Idealisierung des verflossenen britischen Weltreichs. Der chinesische Präsident Xi Jinping forderte eine "große Verjüngung des chinesischen Volkes", der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verfolgte neo-osmanische Ambitionen und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trauerte den Gebietsverlusten des Königreichs Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg hinterher.

Als die Pandemie die Welt in eine dringendere Krise stürzte, kam die Bewegung kurz zum Stillstand. Jetzt aber kehrt die Nostalgie mit aller Macht zurück. Russlands Präsident Wladimir Putin hat diese Form der Politik nun auf die Spitze getrieben. Er rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der falschen Behauptung, Russlands Nachbar sei "ein untrennbarer Teil unserer gemeinsamen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums".

Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Parade zum "Tag des Sieges" über das nationalsozialistische Deutschland – 9. Mai 1945.
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Wie in allen nostalgischen Narrativen gibt es bei Putin ein "Goldenes Zeitalter", gefolgt von einer großen Katastrophe, die schließlich zum aktuellen misslichen Zustand führt. Das Goldene Zeitalter war das russische Zarenreich, in dem die Ukraine eine vollständig integrierte Provinz war. Die Katastrophe kam, als Wladimir Iljitsch Lenin aus der ethnischen Vielfalt des russischen Reiches eine Föderation aus nationalen sowjetischen Republiken formte. Daraus ergibt sich in Putins Interpretation, dass "die moderne Ukraine allein durch Russland, oder um genauer zu sein, durch das kommunistische Russland der Bolschewiken geschaffen wurde". Die aktuelle missliche Lage schließlich ist auf diese Trennung zurückzuführen. Dementsprechend erklärte Putin im März 2014: "Kiew ist die Mutter aller russischen Städte. Die Kiewer Rus ist unser gemeinsamer Ursprung, und wir können ohne einander nicht leben."

"Nostalgie und Nationalismus sind eng miteinander verbunden, insbesondere in alternden Gesellschaften, in denen ein großer Anteil der Bevölkerung sowieso dazu neigt, die Vergangenheit zu idealisieren."

In vielerlei Hinsicht ist nostalgischer Nationalismus das politische Übel unserer Zeit. Die Brexit-Befürworter wollten nicht akzeptieren, dass Großbritannien nach Jahrhunderten der imperialen Herrlichkeit heute nur noch ein normales Land mittlerer Größe ist. Und die Auflösung der liberalen Hegemonie der USA bietet postimperialen Mächten wie China, Russland, der Türkei und sogar Ungarn die Möglichkeit, ihrem verlorenen Status auf der Weltbühne wieder Geltung zu verschaffen, wenn auch mit unterschiedlicher Überzeugung und Entschlossenheit. Trump hat versucht, diese Zentrifugalkräfte mit seiner "America First"-Agenda einzufangen – sein Geist spukt noch immer durch die US-amerikanische Politik.

Verzerrter Blick

Vergangenen Zeiten hinterherzutrauern ist alles andere als harmlos. Die sentimentale, historisch einseitige Verklärung einer romantisierten Vergangenheit gehört zum kleinen Einmaleins chauvinistischer Politiker. Nostalgie wird eingesetzt, um den Blick eines Gemeinwesens auf die Gegenwart zu verzerren und so radikalen und oft gefährlichen politischen Umwälzungen den Weg zu bereiten. Der Appell an vergangene Größe kann ein Gemeinwesen dazu verleiten, Grenzen zu überschreiten, Risiken einzugehen und sich über die herrschende Weltordnung hinwegzusetzen. Nostalgie und Nationalismus sind eng miteinander verbunden, insbesondere in alternden Gesellschaften, in denen ein großer Anteil der Bevölkerung sowieso dazu neigt, die Vergangenheit zu idealisieren.

Die russisch-amerikanische Kulturtheoretikerin Svetlana Boym unterscheidet zwei Formen der Nostalgie: die reflexive und die restaurative. Reflexive Nostalgie ist in der Regel harmlos. Sie prüft die Vergangenheit kritisch und erkennt an, dass zwar ein paar gute Dinge verschwunden sind, aber im Laufe der Zeit auch vieles besser geworden ist. Die heute vorherrschende restaurative Nostalgie dagegen will die Vergangenheit wieder auferstehen lassen.

Einer unangenehmen Gegenwart entfliehen

Trotz aller offensichtlichen Unterschiede zwischen dem Brexit und dem russischen Angriff auf die Ukraine stellen beide den Versuch dar, die Zeit zurückzudrehen, um einer unangenehmen Gegenwart zu entfliehen. Die Brexit-Befürworter wollen zurück in das Zeitalter Eduards VII. oder zumindest in die 1970er-Jahre, als Großbritannien sich noch nicht dem europäischen Projekt angeschlossen hatte, und Putin will zurück in die Zarenzeit.

Allerdings funktioniert eine Politik der Nostalgie in demokratischen Staatsformen ganz anders als in autoritären. Anders als Putin mussten die Brexit-Befürworter die Mehrheit der Wähler von ihrer Sache überzeugen. In Demokratien können die Parteien der Mitte die Versuche nostalgischer Populisten, die Geschichte des Landes zu monopolisieren, vereiteln. Sie können der restaurativen Nostalgie eine reflexive Nostalgie entgegensetzen und zum Beispiel darauf hinweisen, dass das britische Kolonialreich reichlich Blut an den Händen hatte. Die technokratische Hier-und-jetzt-Strategie der EU-Freunde hat stattdessen versucht, einen Kampf um die Herzen der Wähler mit Grafiken und Tabellen zu gewinnen.

Entfremdete Macht

In autoritären Systemen, in denen die Opposition – wenn es sie überhaupt gibt – das Geschichtsbild des Regimes nicht offen kritisieren kann, ist Nostalgie noch gefährlicher. In solchen Fällen besteht eine der wenigen Lösungen in der internationalen Einbindung der entfremdeten Macht. Dieser Ansatz empfiehlt sich möglicherweise auch für eine wieder erstarkende Macht wie China, die das Gefühl hat, dass die Welt sie ständig marginalisiert und ihre lange Geschichte nicht ausreichend würdigt.

Eine aufsteigende Macht kann aus dem Versprechen, ein verlorenes Vaterland wiederherzustellen, spirituelle Kraft ziehen. Aus diesem Grund betont Xi häufig die Kontinuität der chinesischen Geschichte und verknüpft die Volksrepublik mit dem untergegangenen Kaiserreich. Das Konzept einer großen Verjüngung zeichnet den Weg in eine bessere Zukunft, der ohne Bruch mit der Gegenwart auskommt. (Edoardo Campanella, Copyright: Project Syndicate, 10.5.2022)