"Man wird politisch ohne Scheuklappen über das Mandat der EZB und die europäische Integration der Fiskalpolitik diskutieren müssen", sagen der Ökonom Philipp Heimberger und die Ökonomin Lea Steininger im Gastkommentar.

Der mittlerweile zurückgetretene Premier Draghi, von Salvatore Benintende in "Game of Thrones"-Pose abgebildet.
Foto: AFP / Alberto Pizzoli

Die Europäische Zentralbank (EZB) traf letzte Woche wichtige geldpolitische Entscheidungen. Ein Großteil der Aufmerksamkeit lag auf der Leitzinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte. Inwieweit höhere Zinsen die Preissteigerungen dämpfen werden, ist jedoch mehr als fraglich. Denn die Zinserhöhung ist ineffektiv, um die Hauptursachen der gestiegenen Inflationsrate – höhere Energie- und Lebensmittelpreise sowie gestörte Lieferketten – im Kontext von Ukraine-Krieg und Pandemie zu adressieren.

Leitzinserhöhungen sind wie Sand im Getriebe: Sie machen Kredite teurer; Investitionen und Wirtschaftswachstum sinken, die Arbeitslosigkeit steigt; mit zeitlicher Verzögerung dämpft dies Lohn- und Preiswachstum. Um diese wirtschaftsdämpfenden Effekte abzufedern und ungleichen Auswirkungen höherer Leitzinsen auf einzelne Euroländer entgegenzuwirken, verkündete die EZB im selben Atemzug ein neues Anleihekaufprogramm, das Transmission Protection Instrument (TPI). Kann damit ein Wiederaufflammen der Eurokrise verhindert werden?

Fragiles Gebilde

Anders als bei der eigenen TV-Lieblingsserie, wo die nächste Episode herbeigesehnt wird, sollte in Europa niemand eine Fortsetzung des Eurodramas riskieren: Neue Episoden hätten über instabile Finanzmärkte und einen verstärkten Wirtschaftseinbruch negative Dominoeffekte für Österreich und die ganze Eurozone.

Die Eurozone bleibt ein fragiles Gebilde. Ihre Krisenanfälligkeit ist aber kein Naturgesetz, sondern liegt an der institutionellen Bauweise: Die Geldpolitik ist in den Händen der EZB. Doch die Budgetpolitik bleibt in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten; mit der Konsequenz, dass die Regierungen Österreichs, Italiens und 17 weiterer Eurostaaten Anleihen in einer Währung begeben, über die sie kaum Kontrolle haben.

Folglich kann keine Regierung jenen, die in ihre Staatsanleihen investieren – Banken, Versicherungen zum Beispiel – zu 100 Prozent garantieren, dass sie stets liquide ist. Das Risiko einzelner Eurostaaten, in Liquiditätsprobleme zu geraten, die bis zur Zahlungsunfähigkeit führen können, birgt das Potenzial für panikgetriebene Krisen. In Ländern wie Japan, den USA oder Großbritannien, die eine Währungsunion mit einer Fiskalunion vereinen, steht die Zentralbank hingegen immer glaubwürdig hinter den Staatsanleihen. Die Griechenland- oder Italien-Krisen im Euroraum sind also hausgemacht und wären vermeidbar.

"Selbst wenn Mario Draghi italienischer Premierminister geblieben wäre, hätte er sich nicht zum Superhelden aufschwingen können, der den Riss durch die Euroarchitektur im Alleingang näht."

Neue Krisenepisoden des europäischen Seriendramas können nicht durch Spar- und Reformzusagen einzelner Länder verhindert werden; deshalb geht auch der aktuelle Fokus der Debatte auf die Entwicklungen in Italien am eigentlichen Problem vorbei: Selbst wenn Mario Draghi italienischer Premierminister geblieben wäre, hätte er sich nicht zum Superhelden aufschwingen können, der den Riss durch die Euroarchitektur im Alleingang näht. In der Vergangenheit hatten andere EZB-Maßnahmen, vor allem die "Whatever it takes"-Intervention des damaligen EZB-Präsidenten Draghi im Sommer 2012, für Entspannung an den Anleihemärkten gesorgt. Die EZB behandelte die besondere Fragilität der Eurozone, indem sie das Symptom überschießender Marktreaktionen durch eine glaubwürdige Ankündigung linderte: "Wir werden tun, was erforderlich ist, um die Eurozone zusammenzuhalten." Das strukturelle Eurokonstruktionsproblem wurde damit jedoch zugedeckt und in die Zukunft geschoben.

Im Kontext des heiklen Kriegsumfelds sowie der angekündigten Leitzinserhöhungen kamen im Juni 2022 neuerlich Zweifel auf, ob die EZB im Notfall ein Stabilitätsanker für Staatsanleihen sein würde. Dagegen sind nationale Reformprogramme machtlos, wie zuletzt auch Draghi erkennen musste: Die Zinsen für Italien stiegen bereits vor der Regierungskrise deutlich stärker an als für Deutschland.

"Länder, die am dringendsten eine Aktivierung des TPI durch die EZB bräuchten, erfüllen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht alle Kriterien."

Das TPI ist als neues geldpolitisches Versprechen zu verstehen, dass die EZB ein Wiederaufflammen der Eurokrise unterbinden wird. Die möglichen Käufe bestehender Staatsanleihen sind im Vorhinein unlimitiert; sie sollen flexibel für jene Länder erfolgen, die es am dringendsten brauchen. Anleihenkäufe sind jedoch an Bedingungen geknüpft: Die jeweilige Regierung muss die EU-Fiskalregeln einhalten, gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte vermeiden, Schuldentragfähigkeit aufweisen und wirtschaftspolitische Vorgaben der EU-Kommission umsetzen.

Mit diesen Bedingungen, die durch politische Ziele der EU motiviert sind, versucht die EZB ihr Instrument rechtlich abzusichern. Das Problem mit dieser Liste ist jedoch: Länder, die am dringendsten eine Aktivierung des TPI durch die EZB bräuchten, erfüllen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht alle Kriterien. Damit können bald neue Zweifel aufkommen, ob das Programm als Stabilitätsanker für die Anleihemärkte ausreicht. Und was passiert, wenn die bislang einstimmige Unterstützung im EZB-Entscheidungsgremium zu bröckeln beginnt? Es bleiben Unsicherheiten, die in anderen Währungsräumen nicht existieren.

Begrenztes Happy End

Dass die EZB das Drehbuch für den Umgang mit neuen Eurokrisenepisoden immer wieder umschreiben muss, um zumindest ein vorübergehendes Happy End zu ermöglichen, gefällt vielen nicht. Ein pragmatisches und lösungsorientiertes Agieren ist jedoch auch im österreichischen Interesse: Das neue Anleihekaufinstrument ist aus der Notwendigkeit geboren, den Zusammenhalt der Währungsunion in aktuell stürmischen Zeiten sicherzustellen. Davon profitiert auch Österreichs Wirtschaft.

Wenn die Eurozone endgültig aus ihrem hausgemachten Krisenmodus kommen soll, um sich stärker den zentralen wirtschaftspolitischen Herausforderungen zu widmen, die aus dem Klimawandel und geopolitischen Konflikten resultieren, wird man jedoch politisch ohne Scheuklappen über das Mandat der EZB und die europäische Integration der Fiskalpolitik diskutieren müssen. Denn das grundlegende Euro-Konstruktionsproblem besteht weiterhin: Sobald die EZB als Stabilitätsanker für die Anleihemärkte infrage steht, setzt sich das Drama fort. (Philipp Heimberger, Lea Steininger, 31.7.2022)