Die Europäische Union hat die Sanktionen gegen Russland verlängert. Im Gastkommentar tritt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell dafür ein, die Ukraine zu unterstützen, und er erläutert, was die Sanktionen bewirken.

"Das ist die Zeit für uns, Entschlossenheit zu demonstrieren und nicht Beschwichtigung." Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union am Mittwoch.
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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist in eine neue Phase eingetreten. Die ukrainische Armee macht eindrucksvolle Vorstöße, befreit viele Städte und Dörfer und zwingt die russischen Streitkräfte zum Rückzug. Es bleibt abzuwarten, wie es mit der ukrainischen Gegenoffensive weitergehen wird, aber es ist bereits klar, dass sich das strategische Gleichgewicht verschiebt.

In der Zwischenzeit hat die Europäische Union alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Energiekrise zu bewältigen. Wir haben unsere Gasspeicher zu über 80 Prozent gefüllt – weit vor dem angestrebten Termin Beginn November – und uns auf klare Ziele zur Senkung des Gasverbrauchs während des Winters geeinigt. Wir bringen Vorschläge wie eine Sondersteuer für Energieunternehmen, die übermäßige Gewinne erzielt haben, voran, um Verbrauchern und Unternehmen bei der Bewältigung von Preissprüngen zu helfen. Wir erörtern in Abstimmung mit den G7 und anderen gleichgesinnten Partnern Pläne zur Deckelung des Preises für russische Ölexporte. Und wir helfen unseren Partnern im globalen Süden, die Folgen von Russlands brutaler Aggression und dem zynischen Missbrauch von Energie und Nahrungsmitteln als Waffe zu bewältigen. Kurzum: Die Gesamtstrategie funktioniert.

Putins Verliererstrategie

Diejenigen, die die Wirksamkeit von Sanktionen infrage stellen, stehen auf immer wackligerem Boden. Generell haben Sanktionen eine doppelte Funktion: Sie sollen ein Signal setzen und Zwang ausüben. Das Signal drückt die Ablehnung des Verhaltens eines Staates aus – in diesem Fall unter anderem Verstöße gegen das Völkerrecht und mutwillige Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastrukturen. Und obwohl wir uns nicht im Krieg mit Russland befinden, zielt der Druck darauf ab, Russland zu einer Änderung seines Verhaltens zu zwingen und die wirtschaftlichen und technologischen Mittel für die Aggression zu entziehen.

Die EU hat den historischen Beschluss gefasst, die Abhängigkeit von russischer Energie zu beenden, und damit ein klares Signal gesetzt. Der Kreml hat seine Verträge gebrochen, indem er die Gasexportmengen drastisch reduzierte und damit die Märkte in Aufruhr versetzt. Die Fähigkeit zu einer solchen Erpressung mag wie eine russische Stärke erscheinen, ist aber letztlich eine Verliererstrategie. Entgegen der landläufigen Meinung ist es für Russland nicht einfach, einen nachhaltigen Ersatz für den europäischen Markt zu finden, da ein Großteil seiner Gasexportinfrastruktur auf Europa ausgerichtet ist. Die Umlenkung der Gasströme in Länder wie China wird Jahre dauern und Milliarden kosten.

Spürbare Auswirkungen

Es stimmt, dass Russland von den jüngsten Gaspreiserhöhungen profitiert hat. Das heißt aber nicht, dass die Sanktionen gescheitert sind. Vielmehr müssen wir abwarten, wie sich die Entscheidung, Europas Energieimporte aus Russland zu reduzieren, in vollem Umfang auswirkt. Bislang hat Europa nur die Einfuhr russischer Kohle gestoppt und den Import russischen Öls reduziert. Und auch hier sind die Auswirkungen bereits spürbar.

"Die Einnahmen des Kreml werden noch weiter reduziert."

Russlands Kohleexporte sind kürzlich auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Invasion gefallen, was darauf zurückzuführen ist, dass der Kreml keine anderen Abnehmer gefunden hat. Auch die Ölpreise sind gesunken, seit die EU angekündigt hat, Einfuhren von russischem Öl bis Ende 2022 um 90 Prozent zu reduzieren. Und die Einnahmen des Kreml werden sogar noch weiter reduziert, wenn er die Gaslieferungen nach Europa noch stärker einschränkt.

Wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock festgestellt hat, mag Europa in der Vergangenheit einen niedrigen Preis für russisches Gas gezahlt haben, aber das lag daran, dass wir mit unserer Sicherheit bezahlten. Russland hat die Ukraine angegriffen, weil es davon überzeugt war, dass die EU zu gespalten und zu abhängig von russischer Energie sein würde, um zu handeln. Doch der russische Präsident Wladimir Putin hat sich auch hier verkalkuliert.

Offene Wirtschaft

Indem Europa seine Abhängigkeit von russischer Energie verringert, befreit es sich von dem Glauben, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch politische Spannungen abbaut. Das mag vor 40 Jahren sinnvoll gewesen sein, aber heute, wo die wirtschaftliche Interdependenz zur Waffe geworden ist, ist es das sicher nicht mehr.

Aber die richtige Antwort ist nicht, sich nach innen zu wenden. Wir brauchen nach wie vor eine offene Wirtschaft, aber wir dürfen keine Interdependenz ohne Resilienz und Diversifizierung zulassen. Wir müssen die politischen Identitäten derjenigen berücksichtigen, mit denen wir Handel treiben und interagieren. Andernfalls werden wir in die gleiche Falle tappen, die Putin seit 20 Jahren stellt.

Düstere Einschätzung

Die Sanktionen haben nachweislich auch eine zwingende Wirkung gehabt. Der Verlust des Zugangs zu westlicher Technologie hat sich bereits auf das russische Militär ausgewirkt, dessen Panzer, Flugzeuge, Telekommunikationssysteme und Präzisionswaffen ebenfalls auf importierte Komponenten angewiesen sind.

Darüber hinaus warnt ein durchgesickerter interner Bericht der russischen Regierung vor anhaltenden Schäden für die russische Wirtschaft durch die Einfuhrbeschränkungen. In der Landwirtschaft sind 99 Prozent der Geflügelproduktion von importierten Rohstoffen abhängig. In der Luftfahrt reisen 95 Prozent der Passagiere in Russland mit Flugzeugen ausländischer Hersteller, und nun schrumpft die russische kommerzielle Flugzeugflotte aufgrund fehlender Ersatzteile. In der Pharmazie sind 80 Prozent der inländischen Produktion von importierten Rohstoffen abhängig. In der Kommunikations- und Informationstechnologie schließlich könnte Russland bis 2025 keine SIM-Karten mehr haben, und auch andere Bereiche des Telekommunikationssektors werden um viele Jahre zurückgeworfen. Zur Erinnerung: Diese düstere Einschätzung stammt aus offiziellen internen russischen Quellen.

"Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und Putins Regime hat noch einige Karten in der Hand."

Werden Sanktionen allein ausreichen, um den Angreifer zu besiegen? Nein, aber deshalb leisten wir auch massive wirtschaftliche und militärische Unterstützung für die Ukraine und arbeiten an einer militärischen EU-Ausbildungsmission zur weiteren Stärkung der ukrainischen Streitkräfte. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und Putins Regime hat noch einige Karten in der Hand. Aber mit der derzeitigen westlichen Strategie wird es für den Kreml praktisch unmöglich sein, das Blatt zu wenden. Die Zeit und die Geschichte sind auf der Seite der Ukrainer – solange wir an unserer Strategie festhalten. (Josep Borell, Copyright: Project Syndicate, 15.9.2022).