Kommunikationswissenschafter Matthias Karmasin.

Foto: Scheriau

Wien/Klagenfurt – Eine Art "Live-Experiment" mit dem ORF, dem aber kein klarer medienpolitischer Gestaltungswille zugrunde liegt, sieht der Kommunikationswissenschafter Matthias Karmasin im APA-Gespräch in der ORF-Digitalnovelle. Dass die Finanzierung durch die Haushaltsabgabe, gepaart mit Werbeeinschränkungen zum "Nullsummenspiel" wird – wie in den Raum gestellt – sei nicht zu erwarten. Keine Erwähnung fanden in dem Prozess Fragen zur Unabhängigkeit und Gremienreform, monierte Karmasin.

Die Erzählung von Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) und der Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer am Mittwochnachmittag bei der Präsentation der Eckpunkte der ORF-Digitalnovelle lautete in etwa: "Es wird billiger, es wird besser – im Sinne von mehr Angebot für das Publikum – und der ORF wird zur Sparsamkeit gezwungen. Gleichzeitig wird auch mehr Wettbewerbsfairness hergestellt", so der Forscher vom Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung (CMC) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt. Hier sei durchaus Skepsis angebracht.

Letztlich sehe es so aus, dass einfach der Ministerratsvortrag von Ende März "eins zu eins umgesetzt wurde". Am Ende des ganzen, langwierigen Prozesses stehe nun ein Kompromiss ohne "großen Entwurf und großes Ziel" dahinter.

Keine Erhöhung in den nächsten drei Jahren

Das Politiknarrativ des "Nullsummenspiels" lasse sich nicht halten. Vielmehr sei klar, dass ein "massives Sparpaket" kommen werde. Die Abgabe in Höhe von 15,30 Euro "wird ja in den nächsten drei Jahren nicht valorisiert". Bei einer angenommenen Inflation zwischen 7 und 10 Prozent im Jahr habe man es mit einer stattlichen "Nettokürzung" zu tun. Dass der ORF hier nun gut ausgestiegen sei, würden viele Mitarbeiter vermutlich nicht unterschreiben, so der Medienökonom.

Die Idee, der "Blauen Seite" orf.at das Zeitungshafte auszutreiben, indem dort die Textbeiträge nicht mehr in die Tiefe gehen, sondern Überblicksberichterstattung bieten sollen, und deren Anzahl auf 350 pro Woche begrenzt wird, sieht Karmasin zweischneidig. Es sei nämlich gar nicht klar, ob durch die aktuelle Situation um die "Blaue Seite" private Anbieter tatsächlich Nutzer verlören, wie viele Medienhäuser argumentieren.

Es fehlten hier einfach die belastbaren wissenschaftlichen Daten, so der Forscher, der die Diskussion stark durch Einzelinteressen getrieben sieht. Der Abtausch dazu zeige aber auch, dass es der österreichischen Medienlandschaft und -politik insgesamt an "Innovationskraft" im digitalen Bereich mangle.

Mehr Transparenz begrüßenswert

Dass es mehr Transparenz über die Verwendung der Mittel im ORF geben soll, sei im Prinzip zu begrüßen. "Ich hoffe nur, dass das in anderen Unternehmen im öffentlichen Einflussbereich ähnlich gehandhabt wird – nicht nur beim ORF", so Karmasin.

Dass allerdings relativ breit über "Privilegien" gesprochen werde, greife viel zu kurz. Vor allem bei jüngeren ORF-Mitarbeitern könne davon überhaupt keine Rede sein. Wie weit in lukrativere alte Verträge tatsächlich eingegriffen werden kann, sei eine juristische Frage. "Im ORF findet man eine sehr große Spreizung", was die Ausgestaltung der Verträge betrifft. Karmasin: "Es ist aber ganz klar, dass ein Sparpaket in der Größe, wie es der ORF umsetzen muss, auch Einsparungen im Personalbereich bedeutet."

Wieder keine Gremienreform

Interessant sei, dass bei der gestrigen Pressekonferenz zu den Vorhaben "die Frage der Unabhängigkeit überhaupt nicht adressiert wurde". Ebenso war von einer Gremienreform keine Rede. Auch die Frage der Landesanteile im Zusammenhang mit der neuen Haushaltsabgabe wurde nicht angesprochen. Für Karmasin ist jedenfalls nicht einzusehen, warum der Beitrag einer Person von ihrem Wohnsitz abhängig sein soll. Auch steuerliche Fragen zur Haushaltsabgabe seien offen.

Letztlich hofft der Forscher darauf, dass im Rahmen des Begutachtungsprozesses zu den noch nicht vorliegenden Gesetzestexten noch echte Veränderungen angestoßen werden können und Anregungen aus der Wissenschaft berücksichtigt werden. Man dürfe die Diskussion zu den Neuerungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk jedenfalls nicht der Öffentlichkeit entziehen, betonte Karmasin. (APA, 27.4.2023)