Politikwissenschafter Felix Butzlaff warnt in seinem Gastkommentar vor einer Einengung der Aufgaben der Politik in der repräsentativen Demokratie.

Viele Menschen erzürnt der Protest der Letzten Generation, wie hier im April in Wien. Soll die Politik das ausnützen?
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Die in immer engeren Abständen eintreffenden Hiobsbotschaften werfen Fragen nach der Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie auf. Können wir mit Parlamenten, Wahlen und Parteien die Krisen unserer Zeit – vom Klima über Pandemien bis hin zur russischen Aggression – überhaupt noch in den Griff bekommen?

Nimmt man die Parteien- und Parlamentskritik der jungen Klimabewegungen zum Maßstab, muss man daran zweifeln. Auch die Wissenschafterinnen und Wissenschafter des Weltklimaberichts wirken zunehmend verzweifelt. Die Prinzipien der demokratischen Aushandlung und der politischen Kompromisse, so scheint es, führen in existenziellen Krisen nicht zu umfassenden Lösungen. Im Gegenteil, jedes ambitionierte Vorhaben wird stets mit Verweis auf den vermeintlichen Volkswillen eingegrenzt.

(K)ein Wunschkonzert

Und in der Tat: 42 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher wünschen sich zwar mehr Maßnahmen gegen den Klimawandel. Allerdings wünschen sich auch 58 Prozent das nicht oder sind unsicher. Angesichts dessen mag es kaum verwundern, dass Politikerinnen und Politiker der großen, vormaligen Volksparteien SPÖ und ÖVP immer wieder betonen, man bedauere, aber wenn die Bürgerinnen und Bürger umfassendere Reformpakete ablehnten, dürfe man in einer Demokratie den Volkswillen nicht einfach übergehen. Wenn Kanzler Karl Nehammer also versichert, man wolle den Menschen keineswegs die Autos wegnehmen oder ein anderes Leben vorschreiben, spricht er dieses Gefühl an: Demokratie bedeute, dass die Präferenzen der Menschen in Gesetze überführt werden.

Diese Verengung der Rolle politischer Parteien ist hochproblematisch und hat nichts mit der repräsentativen Demokratie per se zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie sie heutzutage von Parteien mit Leben gefüllt wird. Denn in den europäischen Verfassungen und Parteiengesetzen wird seit einem halben Jahrhundert ein Aufgabenbild entworfen, das über das reine Abbilden des Bürgerwillens hinausgeht. "Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung", die beauftragt sind mit der "umfassende(n) Beeinflussung der staatlichen Willensbildung", formuliert dies gleich der erste Artikel des österreichischen Parteiengesetzes. Und das deutsche Grundgesetz beauftragt in Artikel 21: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit".

Doppelte Vermittlerrolle

Die Mütter und Väter der europäischen repräsentativen Demokratien haben hier die Lehren aus den faschistischen Regimen und Massenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts gezogen und Vermittlungsinstanzen und Filter eingebaut, welche die Ungeduld und die Verführungsoffenheit einer Mehrheit einhegen sollen. Neben dieser Skepsis war es aber auch das Wissen darum, dass Problemdiagnosen und die demokratische Bearbeitung von Krisen auf Wissenschaft und Professionalisierung angewiesen sind, die Bürgerinnen und Bürgern nur eingeschränkt zur Verfügung stehen, Parteien und Parlamenten aber schon.

"Demokratische Repräsentation bedeutet eben nicht nur, fetischhaft einen Volkswillen zu proklamieren."

Parteien werden in unseren Verfassungen als professionelle Instanzen auf die Wahrung des Allgemeinwohls verpflichtet. Sie haben in diesem Demokratieverständnis einerseits die Aufgabe, Mitbestimmung und Emanzipation der Menschen zu organisieren, indem sie deren Präferenzen in den parlamentarischen Raum einspielen und Partizipation ermöglichen. Sie haben aber andererseits die Verantwortung, durch politische Bildungsarbeit und Diskurs den Bürgerwillen zu beeinflussen und zu formen. Parteien haben in der repräsentativen Demokratie also eine doppelte Vermittlerrolle inne: Sie sammeln und registrieren, was Menschen wollen, und speisen dies in die Debatten über Gesetze und politische Regelungen ein. Und sie erklären den Menschen, warum welche Gesetze und Vorhaben notwendig sind. Sie organisieren einerseits demokratische Mitbestimmung und sind andererseits dafür verantwortlich, dass für die drängenden Aufgaben der Gesellschaft demokratische Mehrheiten gefunden werden.

Diese Aufgabe, nach zwei Seiten zu kommunizieren und zu vermitteln, ist anstrengend und schwierig. Nur, wenn Menschen das Gefühl haben, ein Politiker, eine Politikerin habe ein gesellschaftliches Ganzes im Sinn, lassen sich Legitimation und Akzeptanz stiften für Entscheidungen, die auf kurze Sicht den eigenen Anliegen zuwiderlaufen.

Lösungen aushandeln

Der politische Diskurs der letzten Jahre hat diese zweite Dimension demokratischer Repräsentation mehr und mehr vernachlässigt. Nicht zuletzt durch das immer lautere Schreien rechtspopulistischer Parteien, den "wahren", ungefilterten Volkswillen zu vertreten, ist Demokratie im öffentlichen Raum darauf verengt worden, den Willen der Bürgerinnen und Bürger in Gesetze zu überführen. Demokratisch sei, was die Menschen forderten; dem Volkswillen zu widersprechen undemokratisch. Wenn sich Politikerinnen und Politiker darauf zurückziehen, man könne keine strengeren Klimamaßnahmen durchsetzen, weil Menschen dies nicht akzeptierten, dann ist das eine Vernachlässigung der zweiten Dimension demokratischer Repräsentation und eine Teilaufgabe ihrer nach der Verfassung zugedachten Rolle.

Demokratische Repräsentation bedeutet eben nicht nur, fetischhaft einen Volkswillen zu proklamieren – sondern vielmehr, Menschen dabei zu helfen, Probleme zu erkennen, zu verstehen und adäquate Lösungsangebote auszuwählen. Für die Klimapolitik beinhaltet dies, sich nicht wider besseren Wissen (welches in überwältigendem Ausmaß zur Verfügung steht) auf den Volkswillen zu berufen, sondern die Aufgabe anzunehmen, Menschen von den notwendigen Maßnahmen zu überzeugen – und an der demokratischen Willensbildung tatsächlich auch aktiv teilzunehmen. (Felix Butzlaff, 5.5.2023)