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Loitering Munition lauert in der Luft, bis der bedienende Soldat ein Ziel ausgemacht hat. Im Bild: ein Modell aus Taiwan.
EPA, TAIWAN MILITARY NEWS AGENCY

James W. Canan ist zweifelsohne ein kluger Mann: Der Autor und Journalist hat sich einen Großteil seiner Karriere mit der Luft- und Raumfahrt auseinandergesetzt und sogar ein Buch über kriegerische Konflikte im All geschrieben. Als er vor 35 Jahren von einer neuen Rakete der US Air Force namens "Tacit Rainbow" berichtete, gingen ihm aber die Worte aus. Wie sollte man eine Waffe bloß nennen, die in der Luft bleibt, bis man ihr ein Ziel zuweist? Ein Marschflugkörper ist es eigentlich nicht. Aber "unbemanntes Luftfahrzeug" oder "Abstandswaffe" wurden dem neuartigen Waffensystem auch nicht gerecht.

Canan wollte kein Begriff für dieses eigenartige Kriegsgerät einfallen, also verwendete er in der Not den Ausdruck "Loitering", also etwa "herumlungern". Was der Autor nicht wusste: Er hatte gerade einer Waffengattung einen Namen gegeben – denn damals wussten auch die Militärs nicht so recht, wie man die "Tacit Rainbow" einordnet. Die zu Deutsch etwas patschert übersetzte "herumlungernde Munition", also "Loitering Munition", war geboren. 

Die "Tacit Rainbow" (eigentlich AGM-136A) war ein Produkt der 80er-Jahre und des Kalten Krieges. Die billige Rakete sollte in Massen von schweren Bombern abgefeuert werden. Hatte die Rakete ihr Ziel erreicht, sollte sie dort "patrouillieren", bis der Feind – sprich die Streitkräfte der Sowjetunion – die Radaranlagen einschaltet. Die Rakete hätte diese dann erkannt und zerstört. Auf diese Art sollte die Flugabwehr außer Gefecht gesetzt werden. Daher auch der Name "Anti-Radiation Missile" oder, zu Deutsch, Anti-Radar-Rakete. 

Switchblade und Lancet in der Ukraine

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist der Begriff Loitering Munition aus der Welt der Militärblogger in eine breite Öffentlichkeit übergeschwappt. Doch wie funktionieren sie? Grundsätzlich handelt es sich bei Loitering Munition immer um ein unbemanntes Luftfahrzeug (Unmanned Aerial Vehicle, UAV) mit angebrachtem Sprengstoff. Einmal gestartet, bleibt die Waffe in der Luft, bis ihr ein Ziel zugewiesen wird, wobei die Waffe beim Angriff zerstört wird, weshalb sich umgangssprachlich auch der etwas irreführende Begriff "Kamikazedrohne" etabliert hat. Die Reichweite und Flugzeit ist dabei höchst unterschiedlich.

So hat die neueste Variante der Switchblade 300 des amerikanischen Herstellers Aerovironment eine Flugdauer von lediglich 20 Minuten und eine Reichweite von ungefähr zehn Kilometern. Dafür ist sie mit nur 2,5 Kilo Gewicht extrem leicht und kann von einem Soldaten mühelos in einem Rucksack transportiert werden. Gestartet wird die Switchblade von einem Transportcontainer. Daraufhin entfalten sich zwei Flügelpaare (daher der Name Switchblade, also Springmesser), und der Operator kann die Waffe von einer Bodenstation aus steuern. Diese hat die Form eines Tablets. Die Drohne überträgt mithilfe einer Kamera in der Nase ein Live-Bild der Umgebung. Hat der Operator ein Ziel ausgemacht, geht die Drohne in den Sturzflug über und greift an.

Switchblade 300 Block 20 Loitering Missile System
AeroVironment

Die kleinste derartige Waffe hat etwa die Wirkung einer Werfergranate im Kaliber 40 mm und dient damit eher der Bekämpfung von weichen Zielen wie Infanterie oder ungepanzerten Fahrzeugen. Die größere Variante, die Switchblade 600, ist auch zur Bekämpfung schwer gepanzerter Ziele wie Kampfpanzern geeignet. Anders als Drohnen können die meisten Loitering Munitions nicht zurückgerufen werden, sobald sie einmal gestartet sind.

Die russischen Streitkräfte setzen die Lancet von Zala, ein Teil des Kalaschnikow-Konzerns, ein, diese ist deutlich größer als die Switchblade und kann in der neuesten Variante über eine Stunde lang in der Luft bleiben. Ein Video, das einen Angriff einer Lancet auf ein von der Ukraine eingesetztes Radar vom Typ TRML-4D zeigt, ging Anfang Juni viral. Auch ein Leopard 2A6 dürfte im Zuge von Kampfhandlungen während der ukrainischen Gegenoffensive von einer Lancet schwer beschädigt worden sein.

Loitering Munition aus der Bastelwerkstatt

Loitering Munition muss aber nicht immer Hightech-Waffen sein. Sowohl die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte setzen zivile Drohnen meist aus chinesischer Fertigung als Loitering Munition ein. Als Gefechtskopf dienen oft modifizierte Granaten, wie sie auch von der RPG-7 abgefeuert werden. Diese improvisierten Loitering Munition sind vor allem billig um wenige hundert Euro herzustellen. Zum Vergleich: Die kleinste Variante der Switchblade kostet rund 6.000 Dollar.

Die jüngste Evolutionsstufe der Loitering Munition ist ebenfalls improvisiert: Die Ukraine setzt in großer Zahl Renndrohnen mit einem daran befestigten Sprengsatz ein. Diese meist vom chinesischen Marktführer DJI hergestellten FPV-Drohnen (First Person View) senden das Live-Bild an eine eigene Brille, was laut ukrainischen Quellen dafür sorgt, dass die Drohnen äußerst präzise gesteuert werden können und die Trefferquote erhöht wird. Tatsächlich kursieren in einschlägigen Telegram-Kanälen Videos, wie die ukrainischen Streitkräfte derartige Renndrohnen in die geöffneten Luken von russischen Panzern lenken. 

Der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, Olexij Danilow, erklärte die Beschaffung von Drohnen zu einer der obersten Prioritäten des Landes. Im Jänner startete die Regierung eine Kampagne zur Beschaffung zusätzlicher Mittel für eine Flotte von 1.000 FPV-Drohnen und bezeichnete sie als "revolutionäres Kampfmittel". Prorussische Quellen behaupten, dass die Ukraine den Markt für zivile Drohnen sprichwörtlich leergekauft habe, wie ABC News berichtet.

Eigentlich keine Kamikazedrohne, oder doch?

James Canan war vielleicht der erste Mensch, der sich Gedanken über Begriffe gemacht hat, mit denen man lauernde Waffen beschreiben kann, er ist aber bestimmt nicht der letzte. In Ermangelung eines einigermaßen eleganten deutschen Ausdrucks ist immer wieder von "Kamikazedrohnen" zu lesen, was aber strenggenommen ungenau ist. Denn eine Kamikazedrohne, wie die von Russland in Massen eingesetzte Shahed-136 aus iranischer Fertigung, lauert nicht in der Luft, sondern folgt einem zuvor festgelegten Ziel.

Oder, um die Begriffsverwirrung komplett zu machen: Alle Loitering Munitions sind Kamikazedrohnen, aber nicht alle Kamikazedrohnen sind Loitering Munitions. (Peter Zellinger, 21.6.2023)