Der Angriff, den die Hamas einen Tag nach dem Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 an mehreren Fronten gegen Israel startete, erinnert auf unheimliche Weise an diesen Konflikt. Beide Angriffe waren gewagt und unerwartet, haben Israel überrascht und dem Gefühl der Unbesiegbarkeit tödliche Schläge versetzt. Es bleibt abzuwarten, ob jener der Hamas wie 1973 zu einer tektonischen Verschiebung in der israelischen Politik und in den Beziehungen zu den Palästinensern führen wird.

Die Agranat-Kommission

1973 überraschten Ägypten und Syrien Israel und drangen tief in das israelische Staatsgebiet ein. In den ersten Tagen des Konflikts war die Lage so ernst, dass Verteidigungsminister Moshe Dayan den Einsatz von Atomwaffen empfahl. Die später mit der Untersuchung des Krieges beauftragte Agranat-Kommission prägte für die Hybris der Geheimdienste den Begriff "conceptziyya".

Der israelische Militärgeheimdienst war der Auffassung, dass die überwältigende Feuerkraft des Landes die Araber von einem Angriff abhalten würde. Insbesondere Ägypten, so glaubte man, würde von einem Angriff absehen, solange es nicht über genügend Luftmacht verfüge, um Ziele tief im Inneren Israels zu treffen.

Beherrschbares Ärgernis

Heute halten diese Organisationen an der Vorstellung fest, dass die überwältigende Macht Israels die Hamas davon abhalten würde, einen neuen Krieg zu beginnen. Ihre politischen Führer, allen voran Premierminister Benjamin Netanjahu, sind zu dem Schluss gekommen, dass regelmäßige Gewaltausbrüche der Palästinenser ein beherrschbares Ärgernis seien, während sie davon ausgingen, dass die Besetzten eine endlose Besatzung akzeptieren würden.

Israel Hamas Premier Benjamin Netanjahu
Vom Angriff der Hamas völlig überrascht: Israels Premier Benjamin Netanjahu bei einer Lagebesprechung.
Foto: EPA / Amos Ben-Gershom/GPO Handout

Der Angriff der Hamas zeigt, wie abwegig dieser Ansatz ist. Es ist inzwischen unstrittig, dass eine Organisation, die ständig zur Zerstörung Israels aufruft und israelische Zivilisten entführt, nicht weiter an Israels Grenzen existieren darf.

Nachdem die Agranat-Kommission 1974 ihre ersten Ergebnisse veröffentlicht hatte, traten Premierministerin Golda Meir und Dayan zurück. Meir verabschiedete sich gnädig, während Dayan Aufforderungen dazu mit der Begründung zurückwies, die Kommission hätte dies nicht empfohlen.

Ein Papiertiger

Netanjahu wird sicherlich Dayans Haltung nachahmen, aber er steht nun zweifellos vor einem schmachvollen Ende seiner 40-jährigen politischen Karriere. Netanjahus harte und kompromisslose Rhetorik hat ihm Anhänger im In- und Ausland verschafft, aber sie entsprach nie der Realität, und die Hamas-Operation, die unter seiner Aufsicht stattfand, machte ihn sofort zu einem Papiertiger.

Er versprach, dass seine Politik die Palästinenser unterwerfen würde, und musste dann mit ansehen, wie sie den schlimmsten Angriff in der Geschichte Israels starteten. Er versprach, dass Wirtschaftspakete die Palästinenser besänftigen würden, nur um festzustellen, dass ihre Bindung an ihr Land stärker war als jeder Appell an ihren Geldbeutel. Seine Strategie ging nie darüber hinaus, dem Militär in den palästinensischen Gebieten freie Hand zu lassen.

Tiefe Gewissensprüfung

Während der Sturz Netanjahus langsam vonstattengehen wird, wird die Entlassung seiner Untergebenen in den Wochen nach dem Abflauen der Gewalt erfolgen. Die Agranat-Kommission empfahl die Entlassung nur einer Handvoll Offiziere, vor allem aus dem Geheimdienst. Die Gewissensprüfung, die dieser Krieg auslöst, wird tiefer in die Armee hineinreichen und auch die höheren Ränge der inneren Sicherheitsdienste erfassen.

Eine ähnliche Abrechnung könnte der Hamas bevorstehen. Der israelische Sicherheitsapparat spricht oft von der Zerstörung der "terroristischen Infrastruktur". Der Angriff bietet nun die Gelegenheit dazu.

Viel Spielraum

Die Hamas und andere islamistische Organisationen betrachten sich als Teil der muslimischen Geschichte. Doch ein Blick in die Neue Welt ist passender. 1996 nahm die peruanische Revolutionsbewegung Túpac Amaru Hunderte von Geiseln in der Residenz des japanischen Botschafters in Lima. Der spektakuläre Angriff erregte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Eine anschließende Razzia des peruanischen Militärs befreite die Geiseln und versetzte der Organisation einen Todesstoß, von dem sie sich nie mehr erholte.

Die internationale Gemeinschaft wird Israel viel Spielraum lassen, dasselbe mit der Hamas zu tun. Der übliche Aufschrei der Sorge um zivile Opfer wird zum Schweigen gebracht, so wie es 2006 während des israelischen Kriegs gegen die Hisbollah der Fall war. Aber die westlichen Regierungen können am effektivsten sein, wenn sie ihren Einfluss nutzen, um Druck auf Katar und die Türkei auszuüben, damit diese Hamas-Funktionäre ausweisen, ihre Büros schließen und das Sammeln von Spenden verbieten.

Größte Tragödie

Heute rufen die israelischen Trompeten nach Rache. Wenn sie verstummen, wird eine Selbstbesinnung folgen. Die Israelis werden die Vorstellung infrage stellen, dass sie die Vorzüge eines westlichen Nationalstaats genießen können und gleichzeitig unempfindlich gegenüber den Härten sind, die ihre Nachbarn ihnen auferlegen wollen.

Ein Wiederaufleben der israelischen Linken und eine Verjüngung des Friedensprozesses sind jedoch unwahrscheinlich. Seit der Ablehnung des israelischen Friedensplans durch die Palästinenser im Jahr 2000 befindet sich die Linke in einem Tief. Heute ist die Arbeitspartei von der Spitze der Macht zu einer der kleinsten Fraktionen in der israelischen Knesset abgestürzt.

1973 brachte die Erkenntnis, dass Israel nicht uneinnehmbar ist, das Land auf den Weg zum Frieden mit Ägypten. Die größte Tragödie des gegenwärtigen Krieges wird darin bestehen, dass es nicht gelingt, dasselbe mit den Palästinensern zu erreichen. (Barak Barfi, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 16.10.2023)