Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer geht in seinem Gastkommentar auf die Corona-Politik Chinas ein, die er als völlig gescheitert betrachtet.

In China breitet sich Corona rasant aus, Krankenhäuser sind vielerorts überfüllt. Offizielle Zahlen gibt es nicht.
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Das Prinzip der kollektiven, zeitlich begrenzten Führung, eingeführt unter Deng Xiaoping zu Beginn der erfolgreichen nachmaoistischen Modernisierungsphase Chinas, wurde am XX. Parteitag der Kommunistischen Partei (KPCh) im Oktober wieder zugunsten des Prinzips der Alleinherrschaft eines Mannes abgeschafft. Xi Jinping ist seitdem der Alleinherrscher über 1,4 Milliarden Chinesinnen und Chinesen – und, wie die jüngste Geschichte uns zeigen sollte, auch das größte Risiko für die aufstrebende zweite Supermacht neben den USA im 21. Jahrhundert.

Seine Macht schien fortan unbegrenzt und uneingeschränkt zu sein, dank der gigantischen Investitionen in den Sicherheitsapparat, in modernste digitale Massenüberwachungssysteme für den öffentlichen Raum und einer völligen Kontrolle der Medien.

Die Stärke der KPCh gründet aber nicht nur auf allumfassender Überwachung und effizienter Repression, sondern auch auf den gewaltigen Erfolgen bei der Modernisierung Chinas. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat sich das Land in den Weltmarkt integriert, ja wurde zu dessen "verlängerter Werkbank", und erreichte bald die Spitze als globale Exportnation. China entwickelte damals eine sehr effiziente Mischwirtschaft aus privatem und staatlichem Sektor unter der Kontrolle der Partei, die mit fantastischen jährlichen Wachstumsraten hunderte Millionen von Chinesinnen und Chinesen aus der absoluten Armut herausführte, hinein in eine neu entstehende Mittelklasse.

Ernsthafter Rivale

China wurde reich und zum globalen Wachstumstreiber und mehrte dabei auch, neben der umfassenden gesellschaftlichen Modernisierung, seine militärische Macht. Der vor allem auf dem überwiegend privaten digitalen Hightech-Sektor gründende Erfolg machte das Land innerhalb weniger Jahre zu einem ernsthaften Rivalen der USA. Es schien nur noch die Frage einer sehr begrenzten Zeit zu sein, bis China die USA als größte Volkswirtschaft ablösen und bei digitalen Zukunftstechnologien die Supermacht überholen würde.

Und dann kam es zum Ausbruch des Coronavirus. Um den Jahreswechsel 2019/2020 herum war die Realität einer Epidemie, ausgehend von Chinas Millionenmetropole Wuhan, nicht mehr zu ignorieren. Im März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Virus zu einer globalen Pandemie und damit zu einer weltweiten Bedrohung. Die Weltwirtschaft kam daraufhin zum Stillstand.

Unterschiedliche Maßnahmen

Die verschiedenen betroffenen Länder reagierten aufgrund ihrer jeweiligen kulturellen und historischen Traditionen höchst unterschiedlich. Die offenen, demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens setzten auf freiwillige Isolation ihrer Bevölkerung und auf die schnellstmögliche Entwicklung von wirksamen Impfstoffen, um so ihre Bevölkerung zu immunisieren. Zudem setzten die westlichen Gesellschaften auf Transparenz und Zusammenarbeit.

China hingegen setzte von Anfang an auf Isolation durch hart durchgesetzte Zwangsmaßnahmen, die zur sogenannten Null-Covid-Strategie führte. Jede festgestellte Infektion zog die völlige Isolierung der Betroffenen unter staatlicher Aufsicht nach sich und ebenso die harsche Isolierung von deren beruflichem und privatem Umfeld.

Die chinesische Strategie schien der westlichen lange Zeit angesichts geringerer Mortalitätsraten überlegen zu sein. Chinas Wirtschaft erholte sich zudem schneller als diejenige der USA und Europas. In den Führungsetagen westlicher Volkswirtschaften griff mehr und mehr die Ansicht um sich, dass eine nur auf eine Stimme hörende autoritäre Kommandowirtschaft mit einer solchen Pandemie besser umzugehen wusste als die vielstimmigen, auf öffentlichen Meinungsstreit beruhenden liberalen demokratischen Gesellschaften des Westens.

Grandioser Irrtum

Diese Meinung sollte sich als grandioser Irrtum erweisen, denn die harte, autoritär durchgesetzte Null-Covid-Strategie Pekings führte faktisch zu einer Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags zwischen der Partei und der Mehrheit des Volkes. Xi hatte übersehen, dass sein Land, zumindest in den großen Metropolen, nicht mehr das China der Sechziger- und Siebzigerjahre unter Mao war. Zum neuen China passte die Realität der radikalen Isolation von Millionenstädten, Wohngebieten, riesigen Fabriken und Hafenanlagen einfach nicht mehr. Die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von China musste darüber hinaus zu enormen Problemen bei den internationalen Lieferketten führen, wenn die großen Industriemetropolen einer monatelangen Quarantäne unterworfen waren. Dies sollte Chinas Exportwirtschaft erheblich schädigen.

Hinzu kam, dass Xi die Pandemie zur Demonstration der Überlegenheit des chinesischen Systems über den absteigenden Westen nutzen wollte und deshalb aus nationalistischer Überheblichkeit auf westliche Impfstoffe verzichtete, sodass Chinas riesige Bevölkerung fast völlig ungeimpft und daher auch ungeschützt blieb. Eine Abkehr von der Null-Covid-Strategie barg und birgt also ein enormes Risiko für die betroffene Bevölkerung. China bezahlt im Moment bitter für seinen Alleingang und die Fehleinschätzung seines starken Mannes Xi.

"Wie war es möglich, dass Chinas scheinbar allmächtiger Alleinherrscher so wenig von dem Gesellschaftsvertrag verstand, auf dem seine Macht entscheidend beruhte?"

Nur wenige Tage nach dem XX. Parteikongress explodierte die Frustration in den großen und zentralen Metropolen Chinas. Die "Revolte der leeren Blätter" griff wie ein Buschfeuer um sich. Xi hatte überzogen. Wie war es möglich, dass Chinas scheinbar allmächtiger Alleinherrscher so wenig von dem Gesellschaftsvertrag verstand, auf dem seine Macht entscheidend beruhte?

Die oft geschmähte liberale Vielstimmigkeit hat sich, bei allen Schwierigkeiten, als die effizientere Methode gegenüber der autoritären Alleinherrschaft erwiesen. Die Vielstimmigkeit und Transparenz der Demokratie und die Begrenzungen der Macht durch Demokratie und Rechtsstaat machen nicht deren Schwäche aus, ganz im Gegenteil: Sie ist deren entscheidende Stärke, weil sich in diesen Eigenschaften die kollektive Vernunft als eine Art Schwarmintelligenz im Widerstreit der Meinungen durchsetzen kann. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 30.12.2022)