Der US-amerikanische Volkswirt und Harvard-Professor Kenneth Rogoff schreibt in seinem Gastkommentar über die bisher verabschiedeten Sanktionen gegen Russland. Diese würden das Land weit weniger hart treffen als prognostiziert.

Sind die Sanktionen gegen Russland so umfassend, wie es US-Präsident Joe Biden in seiner Rede in Warschau festgehalten hat?
Foto: AP/Evan Vucci

US-Präsident Joe Biden hat das Lob, das er für seine jüngste Reise in die Ukraine und nach Polen anlässlich des ersten Jahrestages der russischen Invasion erhalten hat, völlig verdient. Bidens zehnstündige Bahnfahrt von der polnischen Grenze nach Kiew – keine Kleinigkeit für einen 80-Jährigen – hat die Propagandapläne des russischen Präsidenten Wladimir Putin für diesen Anlass komplett zunichtegemacht. Es war ein großer Tag für die Ukraine, die USA und ihre Nato-Verbündeten.

Bidens bei einer Rede im königlichen Schloss in Warschau aufgestellte Behauptung jedoch, die aktuellen Sanktionen gegenüber Russland seien "das umfassendste in der Geschichte je gegen ein Land verhängte Sanktionsregime", war zwar zutreffend, aber zugleich irreführend. Die von den USA anderswo – etwa gegen Nordkorea und den Iran – verhängten Sanktionen waren viel schwerwiegender als die aktuellen Sanktionen gegen Russland, weil sie Sekundärsanktionen gegen Drittländer mit umfassten, die weiterhin mit diesen Regimen Handel trieben. Im Falle Russlands fängt dies gerade erst an.

"Die Sanktionen haben die russische Wirtschaft nicht annähernd so hart oder schnell getroffen wie erwartet."

Russland verkauft weiterhin Öl an Indien und China und kauft frisches Obst und Gemüse von israelischen Exporteuren. Zudem erfolgt ein Handel enormen Umfangs mittels sogenannter Umladungen. Zwar sind die europäischen Exporte nach Russland sanktionsbedingt gesunken; zugleich jedoch ist das Handelsvolumen zwischen Russland und Ländern wie der Türkei, Armenien, Kasachstan und Kirgisistan steil gestiegen.

Die Sanktionen haben die russische Wirtschaft daher nicht annähernd so hart oder schnell getroffen wie erwartet. In den Anfangstagen des Krieges überraschten die USA sogar langjährige Veteranen des internationalen Finanzsektors, als sie in kürzester Zeit 300 Milliarden US-Dollar an offiziellen russischen Devisenreserven einfroren. Als Apple Pay und Google Pay in Russland ihren Betrieb einstellten, hofften viele, dass Moskaus U-Bahnen zum Stillstand kommen würden. Doch während prognostiziert wurde, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) um mindestens zehn Prozent einbrechen würde, schätzt der Internationale Währungsfonds nun, dass die russische Wirtschaft 2022 nur um gut zwei Prozent geschrumpft ist und im laufenden Jahr sogar etwas wachsen dürfte.

Auswirkungen auf dem Schlachtfeld

Natürlich gibt es eine Menge Gründe, die BIP-Zahlen mit Skepsis zu betrachten. Für den Kreml sind sie nur ein Propagandainstrument, um die europäischen Länder und ihre Verbündeten zu überzeugen, dass die Sanktionen ihnen selbst mehr wehtun als Russland. Trotzdem ist klar, dass das aktuelle Sanktionsregime der russischen Wirtschaft nicht den verheerenden Schaden zugefügt hat, den sich die westlichen Regierungen erhofft hatten.

"Während sie sich wirtschaftlich weniger lähmend auswirkten als von einigen erhofft, haben die westlichen Sanktionen auf Militärtechnologie und Komponenten Russlands Fähigkeit beeinträchtigt, seine Bestände an Präzisionsraketen wiederaufzufüllen."

Doch hätten Wirtschaftssanktionen allein nie ausgereicht, um Putins Regime zu stürzen. Der einzige Grund, warum Sanktionen in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren in Südafrika erfolgreich waren, war schließlich, dass die Welt die südafrikanische Apartheid weitgehend geeint ablehnte. Doch das war eindeutig die Ausnahme von der Regel.

Echte Auswirkungen hatten die Sanktionen auf dem Schlachtfeld. Während sie sich wirtschaftlich weniger lähmend auswirkten als von einigen erhofft, haben die westlichen Sanktionen auf Militärtechnologie und Komponenten Russlands Fähigkeit beeinträchtigt, seine Bestände an Präzisionsraketen wiederaufzufüllen. Auch wenn einige Computerchips, die sowohl in ziviler als auch in militärischer Ausrüstung zum Einsatz kommen, sicherlich ihren Weg nach Russland gefunden haben, steht außer Zweifel, dass die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Spezialchips ihren Tribut gefordert haben.

Nicht komplett falsch

Doch das reicht nicht. Die Sanktionen haben Russland nicht daran gehindert, sich ausreichend Chips zu beschaffen, um große Teile der Ukraine mit intelligenten Minen zu bedecken. Laut einigen Schätzungen sind inzwischen 30 Prozent der Ukraine vermint, insbesondere der Nordosten. Diese durch das von Russland nicht unterzeichnete Ottawa-Abkommen von 1997 verbotenen Minen könnten die Erholung der Ukraine auf Jahre hinaus behindern. Und Russland hat dies geschafft, ohne dass China das Land offen mit Militärtechnologie beliefert hat – ein Risikoszenario, auf das die Biden-Regierung kürzlich hingewiesen hat.

Biden mag das von der EU und den USA angeführte Sanktionsregime zu Unrecht als das umfassendste je gegen ein Land verhängte bezeichnet haben, aber er lag doch nicht komplett falsch. Insbesondere die Finanzsanktionen sind weitreichend und komplex, und einige richten sich sogar gegen Putin selbst. Doch sind die Sanktionen darauf ausgerichtet, zuzulassen, dass Russland weiterhin alles außer Öl – für das es trotzdem noch eine Menge Käufer hat – relativ unbehindert exportieren kann. So ist es in der Tat merkwürdig, dass die USA, die fast 20 Prozent ihres Stroms aus Kernkraft beziehen, noch immer russisches Uran importieren.

Die Finanzsanktionen richten sich auch gegen ihn direkt: Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Foto: IMAGO/SNA

Strengere Sekundärsanktionen

Russland wies vor der Invasion beträchtliche Handelsüberschüsse auf; daher hat es weiterhin reichlich Zugang zu harter Währung für Importe – auch wenn die Umleitung über andere Länder diese Waren verteuert und die Palette der Güter, die Russland kaufen kann, geschrumpft ist. Um die Schrauben gegenüber Putins Regime fester anzuziehen, müssen die USA und ihre Verbündeten mit Sekundärsanktionen Ernst machen.

Das freilich ist leichter gesagt als getan. Die von einigen geäußerten Befürchtungen, wonach Sekundärsanktionen eine weltweite Rezession auslösen könnten, sind wahrscheinlich übertrieben. Das größere Problem ist, dass blockfreie Länder wie Indien und russische Verbündete wie China die moralische Empörung des Westens über die Invasion in der Ukraine nicht teilen. Sekundärsanktionen könnten den Prozess der Deglobalisierung, der im vergangenen Jahr Gegenstand vieler Analysen war (wenn auch bisher weitgehend ohne Handelskennzahlen), beschleunigen.

Keine andere Wahl

Auch wenn Biden und die Nato versuchen dürften, das zu vermeiden, könnten sie sich genötigt fühlen, den Rubikon zu überschreiten, falls Putin in der Ukraine beispielsweise taktische Atomwaffen einsetzt. Viele Kommentatoren sind überzeugt, dass dieses "Weltuntergangsszenario" nie eintreten wird, und ich hoffe, sie haben recht. Doch falls sich Putin – womöglich im Gefolge einer ukrainischen Frühjahrsoffensive – in die Ecke gedrängt sieht und es tut, würde von China und Indien erwartet, dass sie ihren Handel mit Russland einstellen. Sollten sie sich weigern, hätten die USA und ihre Verbündeten keine andere Wahl, als wirklich das schwerwiegendste Sanktionsregime zu verhängen, das die Welt je erlebt hat. (Kenneth Rogoff, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 7.3.2023)