Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell schreibt in seinem Gastkommentar über die schwierige Situation im Nahen Osten und über die Rolle Europas in diesem Konflikt.

Jede Woche sterben zu viele Menschen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, und Millionen leben in Angst und Hoffnungslosigkeit. Die Welt hat mit vielen Erklärungen und zu wenigen Taten reagiert. Das muss sich ändern. Die Europäische Union und die gesamte internationale Gemeinschaft müssen mehr tun. Die Menschen auf der ganzen Welt erwarten, dass wir uns für Frieden, Gerechtigkeit und internationales Recht einsetzen und arbeiten. Um in diesem Konflikt erfolgreich zu handeln, müssen wir zuerst ehrlich zueinander und zu uns selbst sein.

Die Konflikte gehen weiter, ein Frieden scheint in weiter Ferne: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.
Foto: Reuters / Abir Sultan

Ehrlichkeit bedeutet anzuerkennen, dass der Extremismus auf beiden Seiten zunimmt. Rücksichtslose Angriffe und Gewalt fordern viele israelische Todesopfer. Die Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland bedroht zunehmend das Leben und die Lebensgrundlagen vieler Palästinenser – fast immer ungestraft. Darüber hinaus fordern israelische Militäroperationen häufig den Tod von palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten, ohne dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden; illegale Siedlungen werden auf besetztem Land errichtet, und der heikle Status quo in Bezug auf heilige Stätten wird ausgehöhlt. Während sich die Israelis auf einen starken Staat und eine starke Armee verlassen können, haben die Palästinenserinnen und Palästinenser keinen solchen Rückhalt. Diese enorme Ungleichheit bei der Kontrolle des eigenen Schicksals ist an jedem Kontrollpunkt am Straßenrand sichtbar. All diese Tatsachen sind Hindernisse für den Frieden.

Freiheit und Wohlstand

Die Akteure in Europa reagieren oft unterschiedlich auf die Ereignisse in der Region. Aber das hindert die EU nicht daran zu handeln. Wir alle sind höchst beunruhigt über die jüngsten Entwicklungen, und wir alle verfolgen letztlich dasselbe Ziel: einen sicheren, weltweit anerkannten Staat Israel, der in Frieden neben einem sicheren, weltweit anerkannten Staat Palästina lebt. Diese Lösung würde es beiden Seiten ermöglichen, Freiheit, Wohlstand und friedliche Beziehungen in der Nachbarschaft zu genießen.

Und auch unsere eigenen Interessen stehen auf dem Spiel. Wir wollen Frieden, weil eine Beendigung des Konflikts für die internationale Sicherheit so wichtig wäre. Wir wollen Frieden, weil wir das Existenzrecht sowohl Israels als auch Palästinas anerkennen und weil wir überall für den Grundsatz des Völkerrechts eintreten. Wir wollen Frieden, weil er so wichtig ist für die Stabilität und den Wohlstand in der gesamten Region. Und wir wollen Frieden, weil Terrorismus überall eine Bedrohung darstellt.

Terrorismus abschwören

Doch während die EU, die Palästinensische Autonomiebehörde und ein beträchtlicher Teil der israelischen Öffentlichkeit die Zweistaatenlösung unterstützen, erkennt die Hamas das Existenzrecht Israels nicht an, und das Koalitionsabkommen der derzeitigen israelischen Regierung spricht den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat ab. Die israelische Rechte leugnet sogar zunehmend, dass die Besatzung überhaupt existiert.

Es ist klar, dass weder die israelische noch die palästinensische Seite zum Frieden bereit ist. Auf palästinensischer Seite mangelt es an Einigkeit und an demokratischer Legitimation. Alle palästinensischen Gruppierungen müssen dem Terrorismus abschwören und ihre politischen Spaltungen überwinden. Auf israelischer Seite muss es oberste Priorität sein, den Siedlungsbau und die Gewalt der Siedler zu stoppen und Verhandlungen über einen unabhängigen palästinensischen Staat anzubieten.

"Wir können die Parteien zwar nicht an den Verhandlungstisch zwingen, aber wir können ihnen den Weg bereiten und ihnen helfen, bereit zu sein."

Die internationale Gemeinschaft hat es versäumt, substanzielle Friedensbemühungen zwischen den Parteien voranzutreiben. Unsere US-amerikanischen Partner haben lange versucht die Parteien zusammenzubringen, und die jüngsten Normalisierungsabkommen (die sogenannten Abraham-Abkommen) zwischen Israel und einigen seiner arabischen Nachbarn haben einen wichtigen Beitrag zur regionalen Stabilität geleistet. Aber sie haben den israelisch-palästinensischen Frieden nicht nähergebracht. Auch wenn die Vereinigten Staaten für den Prozess nach wie vor unverzichtbar sind, können wir den Großteil der harten Arbeit nicht länger US-Diplomaten überlassen. Vielmehr brauchen wir eine wirklich kollektive Anstrengung, die die arabische Staaten, Europa, die Vereinigten Staaten und andere einschließt.

Was sollten wir auf Basis dieser ehrlichen Fakten als Nächstes tun? Wir brauchen vor allem intensivere internationale Bemühungen, um eine neue Friedensdynamik zu schaffen. Wir können die Parteien zwar nicht an den Verhandlungstisch zwingen, aber wir können ihnen den Weg bereiten und ihnen helfen, bereit zu sein.

Abwärtsspirale der Gewalt

Es liegt auf der Hand, dass weder die europäischen noch die anderen Beiträge umgesetzt werden können, wenn es nicht zu einem israelisch-palästinensischen Friedensabkommen kommt – und wir sollten nicht davon ausgehen, dass unsere Unterstützungszusagen ausreichen, um dieses Ergebnis herbeizuführen. Dennoch ist es dringend notwendig, die derzeitige Abwärtsspirale der Gewalt zu stoppen, und wir können eine entscheidende Rolle dabei spielen den Parteien zu helfen, ihre Optionen zu durchdenken.

Um es klar zu sagen: Ich kündige keine europäische Friedensinitiative an. Aber zum jetzigen Zeitpunkt überlegen wir mit anderen, wie wir uns auf den Tag vorbereiten können, an dem Israelis und Palästinenser zu Frieden bereit sind. Wir können diesen Tag näherbringen, indem wir ein klareres Bild davon zeichnen, wie ein regionaler Frieden aussehen würde. Und Ehrlichkeit erfordert auch die Einsicht, dass wir es uns nicht leisten können, noch länger zu warten. (Josep Borrell, Copyright: Project Syndicate, 10.3.2023)