Nur die wenigsten Studierenden kommen wie dieser Student mit Keya Baier (Gras) ins Gespräch, wenn sie ihre Flyer entgegennehmen.
Foto: Regine Hendrich

Es ist kälter als gedacht an einem sonnigen Mittwochmorgen Ende April. Der Wind bläst über die Wiener Ringstraße, mit jeder Bim huscht ein neuer Schwall Studierender vom Schottentor zur Uni Wien. Keya Baier stellt sich in die Sonne. In der Hand hält sie einen Stapel Flyer: "Vote Today, Shape Tomorrow".

Die 23-jährige Politikstudentin der Grünen & Alternativen Student_innen (Gras) ist die aktuelle Chefin der Österreichischen Hochschüler_innenschaft. Noch. Vom 9. bis 11. Mai wählen die Studierenden ihre Studien-, Hochschul- und Bundesvertretung. Daran erinnert Baier lächelnd.

Viele machen einen großen Bogen, sobald sie Baier und ihre Stellvertreterinnen Sara Velić (VSStÖ) und Boryana Badinska (Fachschafslisten) sehen. Sie vermeiden Augenkontakt, schütteln den Kopf. Manche stecken den Flyer unbeachtet ein. Nach einer halben Stunde ist Baier den Stapel los und holt Nachschub. Nur wenige sprechen mit ihr. Einige wissen von der Wahl, aber nicht immer, was die ÖH macht. Andere haben noch nie davon gehört. Baiers Lächeln verschwindet nicht, sie ist mittlerweile darin geübt, mit Frust umzugehen.

Kritik und Errungenschaften

Was macht die ÖH-Chefin den ganzen Tag, wenn sie nicht vor Hochschulen wahlkämpft? Und wozu braucht es die ÖH? Mit solchen Fragen sind die Vorsitzenden, die eine linke Dreierkoalition im Studierendenparlament bilden, oft konfrontiert. Gerade im Wahlkampf wird die Legitimität der ÖH gern kritisiert. Die einen finden, sie solle sich statt politischer Fragen und Demos der Beratung widmen. Andere meinen, sei zu leise und sollte härter mit der Regierung verhandeln.

Baier kontert den Einwänden mit den Errungenschaften und dem Krisenmanagement der letzten beiden Jahre. So konnte die Koalition eine jahrelange Forderung mitumsetzen: die Anhebung der Studienbeihilfe – auch wenn diese "noch nicht reicht". Sie stockte den Fonds für Härtefälle auf, installierte einen Fördertopf für klimafreundliche Initiativen, unterstützte ukrainische und iranische Studierende. Sie solidarisierte sich mit Uni-Besetzungen, erkämpfte eine Bezahlung für Lehramtsstudierende in Sommercamps sowie eine kostenlose HPV-Impfung bis 21 Jahre und beauftragte bei Ifes eine große Studierendenbefragung.

Sara Velić (VSStÖ), war bis Juni an der Spitze der ÖH. Üblicherweise tauschen die beiden stärksten Fraktionen in der Koalition nach einem Jahr die Plätze. Nun ist Velić Keya Baiers Stellvertreterin.

Die meisten Punkte im Koalitionsvertrag konnte der Vorsitz abhaken. Aber als oberste Vertreter von rund 392.000 Studierenden frage man sich laut Baier und Velić schon: Hätte ich noch mehr schaffen können? "Wir haben es gut gemacht – für ein ‚Sehr gut‘ fehlte das letzte Meilchen. Zwischenmenschlich gebe ich uns einen Einser", bilanziert Baier.

Nun steht der Endspurt im ÖH-Wahlkampf auf der To-do-Liste. "Es hilft, wenn die Studierenden zumindest das Wahldatum hören, damit mehr wählen gehen", sagt Velić. Je mehr Stimmen, umso mehr Legitimation, so die Formel. Um auf die Wahl aufmerksam zu machen und die mit 16 Prozent tiefste Beteiligung bei der letzten Wahl zu erhöhen, hat die ÖH erstmals zwölf Campaigner angestellt. Sie sollen zusätzlich 40 Flyeraktionen machen. Eine Agentur produzierte Erklärvideos, nachdem die Ifes-Umfrage zeigte, dass Studierende wenig über die Bundesvertretung wissen.

Missstände als Motivation

Nach einer Stunde haben die Vorsitzenden 300 Flyer verteilt, Velić fischt weggeschmissene aus dem Müll. Die beiden wärmen sich in der Uni-Cafeteria. Baier bestellt einen großen Americano, Velić eine Melange. "Ganz schön teuer", bewerten sie die Preise – und das Studentenleben. Probleme im Studium – wie niedrige Beihilfen und fehlende Tutoren – hätten sie motiviert, an der Uni aktiv zu werden, sagt Baier, die von 2019 bis 2021 die Salzburger Uni-Vertretung anführte. Zuvor war die Berlinerin bei der grünen Jugend in Deutschland aktiv. Auch Velić treiben die Missstände an: Sie wolle "nicht nur darüber motzen, was schlecht ist, sondern was dagegen tun."

Um elf Uhr lächelt die ÖH-Spitze bei einem Termin mit Renate Anderl, Präsidentin der Arbeiterkammer, in die Kamera. Die Interessenvertretungen haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, auch bei der AK-Wahl sinkt die Beteiligung seit Jahren. Kontaktpflege sei wichtig, betonen die Funktionärinnen.

Bei Fototerminen in die Kamera zu lächeln gehört auch zu den Aufgaben der drei ÖH-Vorsitzenden: Keya Baier (Zweite von rechts), Sara Velić (rechts im Bild) und Boryana Badinska (Zweite von links). Hier sind sie mit AK-Präsidentin Renate Anderl (Mitte) bei der Eröffnung der FAKTory.
Regine Hendrich

Neben Fototerminen gehören Treffen mit den ÖH-Referaten und Beamten des Bildungsministeriums zur Hauptaufgabe der ÖH-Chefin. Am Vortag hat das Team mit dem Arbeitsminister über berufstätige Studierende und unbezahlte Praktika gesprochen. Später besuchte Bundespräsident Alexander Van der Bellen das ÖH-Büro zum Wahlkampfaufruf. Vizekanzler, Justizminister und Gesundheitsminister stehen noch als "Stakeholder_innen" auf dem Whiteboard hinter Baiers Schreibtisch.

Nach den Politikertreffen werde das Besprochene nicht immer ins Ressort getragen, kritisiert Baier. Der Wissenschaftsminister kümmere sich zu wenig um die Studierenden: "Es fehlt der politische Wille." Für jede "noch so kleine" Änderung, wie ein höheres Uni-Budget, brauche es viel Druck. Die Verhandlungen seien nicht immer leicht: "Als weibliches Team werden wir weniger ernst genommen. Ist ein Referent dabei, wird oft nur er angesprochen." Das frustriere. Überhaupt braucht der Job viel Frustrationstoleranz. "Trotzdem ist es wichtig, dass es die ÖH gibt und sie einfordert, was möglich wäre." Sie versuche, den Frust zur Triebkraft zu machen, sagt Baier.

Alle sind "Friends"

Um halb zwölf stimmen sich die Vorsitzenden im wöchentlichen Jour fixe ab, Baier protokolliert. Sie verteilen To-dos, besprechen eine Schulung, die Velić am Abend für die Wahlkämpfenden hält, sowie Badinskas Gehaltsgespräche mit ÖH-Angestellten. Auf der Agenda steht auch, einen Termin mit einem Ifes-Meinungsforscher nach dem Mittagessen vorzubereiten. Das Team will herausfinden, ob die Wahlkampagne erfolgreich war.

Derweil steckt der Wirtschaftsreferent den Kopf zur Tür herein. Er will mit Baier eine Zigarette rauchen. "Wir sind auf der ÖH alle Friends", sagt Velić. Sie rufen einander mit "Faustis", "Grasis", "Flölis". Velić mag den Austausch, das gemeinsame Mittagessen. Heute gibt es Pizza, dann den vierten Kaffee für Baier. Ihr Tag wird wohl lang: der Ifes-Termin, ein Video, das sie für ein Podium drehen muss, E-Mails, Telefonate.

Die ÖH-Funktionäre arbeiten ehrenamtlich, die Vorsitzenden erhalten monatlich 750 Euro Entschädigung. Ohne ein Stipendium hätte sich Baier das nicht leisten können. "Die ÖH ist mehr als ein Vollzeitjob", sagt sie, die von einer 40-Stunden-Woche und mehr sowie häufigen Elf-Stunden-Tagen erzählt. Seit sie im Juni den Vorsitz von Velić übernommen hat – dieser wird nach einem Jahr meist an die zweitstärkste Fraktion übergeben –, war sie in keiner Lehrveranstaltung mehr.

Seit sie im Juni den Vorsitz übernommen hat, war Keya Baier in keiner Lehrveranstaltung ihres Masters Politikwissenschaft. Die ÖH sei mehr als ein Vollzeitjob, sagt die 23-Jährige.
Regine Hendrich

Es beeindrucke sie, dass Velić nebenbei ihre Bachelorarbeit schreibe. Obwohl man im Studium zurückfällt, lohne sich die ÖH: "Ich habe viel Hochschulrecht gelernt, kann Events organisieren, weiß mit Stakeholderinnen umzugehen." Doch: Es falle ihr schwer, Pausen zu machen, abends nicht erreichbar zu sein. Sie freue sich, nach der Amtsperiode das Diensthandy abzuschalten: "Die Arbeit ist cool, macht aber müde." Die 23-Jährige trägt die Letztverantwortung, haftet für 16 Millionen Euro.

Jüngere Funktionäre

Ein Trend, der sich seit ein paar Jahren zeigt: Die Funktionäre werden jünger – und bleiben kürzer in den Posten. Das beobachtet eine, die seit 30 Jahren in der ÖH arbeitet: Sekretärin Lily Wasserbacher. "Früher konnten sich die Studierenden mehr Zeit lassen im Studium, das geht nicht mehr." Die Fluktuation sei groß, Angestellte – Beraterinnen, Buchhalter, Juristinnen – seien die Stütze der ÖH. Die Fraktionen müssten auf eine gute Übergabe achten, damit nicht mit jeder Exekutive Wissen verloren gehe.

Nach dem Vorsitz strebt Baier keine Position in der Bundespolitik an, dabei ist das nicht ungewöhnlich, wie Sigrid Maurer (Grüne) oder Yannick Shetty (Neos) zeigen. Dass sich Studierende deshalb bei der ÖH engagieren, glaubt Baier nicht: "Die Menge derjenigen, die in die große Politik wollen, ist gering. Wenn, so gehen sie in die Politik, weil sie hier lernen, wie das sein könnte." Nach ihrer letzten ÖH-Sitzung im Juni wird Baier Österreich verlassen: Ab Herbst studiert sie in der Schweiz. (Selina Thaler, 8.5.2023)