Der tägliche Blick in die Nachrichten ist für Progressive in Europa inzwischen eine schmerzhafte Erfahrung: Die Ukraine stagniert in ihrem Krieg mit Russland, Donald Trump ist auf dem besten Weg zurück ins Weiße Haus, und antieuropäische Parteien schneiden in Meinungsumfragen im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament sehr gut ab.

Europas Bürgerinnen und Bürger können kaum etwas bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten oder bei den Entwicklungen an der Kriegsfront in der Ukraine ausrichten, doch die Wahlen in den 27 EU-Ländern im Juni bieten ihnen die seltene Gelegenheit der Einflussnahme. Die entscheidende Frage ist: Werden sie sich überhaupt bemühen?

AfD Protest Demonstration Deutschland EU-Wahl
In Deutschland wird gegen die AfD weiterhin auf die Straße gegangen – so auch Mitte März in Saarbrücken.
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In der Vergangenheit hatten es diese Wahlen schwer, die Aufmerksamkeit der Stimmberechtigten zu gewinnen: 2019 ging nur jeder Zweite zur Wahl; in Tschechien, Kroatien und der Slowakei lag die Wahlbeteiligung sogar unter 30 Prozent. Dieses mangelnde Interesse wird häufig mit der weitverbreiteten Annahme erklärt, die Wahl zum Europaparlament habe keine Relevanz.

"Dass die Wählerschaft der etablierten Parteien in mehreren Ländern so schwer zu mobilisieren ist, lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich ihre Kontrahenten erfolgreich 'entgiftet' haben."

Doch dieses Jahr gibt es einen entscheidenden Unterschied. In mehreren Ländern sind die Anhängerinnen und Anhänger antieuropäischer Parteien stark mobilisiert – mindestens genauso stark wie ihre proeuropäischen Kontrahenten, wenn nicht noch stärker. Der jüngsten veröffentlichen Meinungsumfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) zufolge geben 71 Prozent der AfD-Anhängerinnen und -Anhänger an, dass sie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament "auf jeden Fall" wählen werden – verglichen mit 64 Prozent der CDU/CSU-Wählerschaft. In Frankreich und Österreich deuten die Umfrageergebnisse ebenfalls darauf hin, dass die Anhängerschaft der stärksten antieuropäischen Parteien (Rassemblement National und FPÖ) ebenso mobilisiert ist wie die ihrer direkten Konkurrenten (Renaissance und ÖVP).

Zudem scheinen viele Anhängerinnen und Anhänger antieuropäischer Parteien zu erkennen, dass bei den diesjährigen Wahlen viel auf dem Spiel steht. Auf die Frage, wie stark die Ergebnisse ihre Zukunft beeinflussen werden, antworteten 58 Prozent der AfD-Wählerinnen und -Wähler mit "sehr stark" oder "ziemlich stark", verglichen mit 52 Prozent der CDU/CSU-Wählerinnen und -Wähler.

Ungleiche Stimmungslagen

Dass die Wählerschaft der etablierten Parteien in mehreren Ländern so schwer zu mobilisieren ist, lässt sich zum Teil damit erklären, dass sich ihre Kontrahenten erfolgreich "entgiftet" haben. Kaum jemand glaubt heute noch, dass die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Italiens Austritt aus der EU oder der Eurozone im Sinn hat, trotz der Befürchtungen vor dem Wahlsieg ihrer Partei im Jahr 2022. Und auch Marine Le Pen hat es geschafft, ihr persönliches Image – und auch das ihrer Partei – zu verbessern, so sehr, dass sie als aussichtsreichste Kandidatin für die französische Präsidentschaftswahl 2027 gehandelt wird. Folglich fällt es proeuropäischen Parteien schwer, überzeugend darzulegen, dass Europa vor den Rechtsextremen gerettet werden muss.

Die unterschiedlich ausgeprägte Mobilisierung zwischen pro- und antieuropäischen Parteien rührt wohl von den grundlegend ungleichen Stimmungslagen ihrer jeweiligen Wählerschaft her. Im Gegensatz zur Tatkraft der Rechtspopulisten, die – in mehreren Ländern – den Wind in ihren Segeln spüren, sind viele Progressive desillusioniert von der Arbeit ihrer nationalen Regierungen, ausgelaugt von den zahlreichen Krisen, die die EU in den letzten Jahren durchgerüttelt haben, und glauben vielleicht sogar, dass ein Rechtsruck unvermeidlich ist.

Ein Land – Polen – bildet hier jedoch eine schlagkräftige Ausnahme. Die Wählerinnen und Wähler aus dem Umfeld der von Donald Tusk geführten Bürgerkoalition (KO) sind vor der Wahl im Juni deutlich stärker mobilisiert als die ihrer antieuropäischen Kontrahenten, der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). 73 Prozent – gegenüber 61 Prozent der PiS-Wähler – sagen laut unserer Umfrage, dass sie bei der Europawahl "auf jeden Fall" abstimmen werden. Im Vorfeld der Parlamentswahl im Oktober hat die KO sich sehr bemüht, die Progressiven davon zu überzeugen, dass eine Abwahl der PiS möglich ist. Diese positive Vision – neben der Unzufriedenheit mit der PiS – hat die Wahlberechtigten zum Aktivwerden animiert, und so haben sie bei der Wahl den Wandel ermöglicht.

Authentische Alternativen

In der Vergangenheit führte eine zunehmende Annäherung politischer Strategien und Narrative des europäischen "Mainstreams", unabhängig von politischer Ausrichtung, dazu, dass zuvor marginale oder noch gar nicht existierende antieuropäische Parteien – AfD, Rassemblement National, Schwedendemokraten, Geert Wilders' Partij voor de Vrijheid (PVV), Vox in Spanien oder Chega in Portugal – sich als die einzigen authentischen Alternativen im Land profilieren konnten. Je mehr es Letzteren gelang, neue Wählergruppen anzuziehen, desto mehr scheinen sie bei den Progressiven ein Gefühl von Unabwendbarkeit auszulösen. So besteht heute für die EU-Befürworter die größte Herausforderung darin, diese Stimmung zu drehen.

Die proeuropäischen Wählerinnen und Wähler zu verängstigen, indem man die Vision eines Lebens unter der extremen Rechten heraufbeschwört, mag den EU-Befürwortern in einigen Ländern – etwa in Deutschland und Spanien – helfen, wird aber nicht ausreichen, um die Apathie zu durchbrechen. Mit jeder Wahl wird Angst als Wahlkampfthema wackliger.

Um ihre Wählerschaft zu mobilisieren, müssen die Pro-Europa-Parteien vielmehr mit einer klaren und greifbaren Vision von einem starken und geeinten Europa begeistern. Gelingt ihnen dies im Juni, können sie dazu beitragen, einen Teil der düsteren Stimmung nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten und der Ukraine zu vertreiben. (Paweł Zerka, 22.3.2024)