Für den Kulturtheoretiker Wolfgang Müller-Funk stehen die westlichen Staaten vor dem Scheideweg, schreibt er in seinem Gastkommentar, allen voran "die hilflose deutsche Regierung".

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Der Westen hat lange gezögert, am Schachbrett Platz zu nehmen. Auch jetzt fallen die Züge oft sehr zögerlich aus.
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Bekanntlich hat Schach als nobles Kriegs- und Würfelspiel debütiert. So agierten die Türme in der Schlacht als Kriegselefanten und die Bauern als einfache Soldaten. Man kann die Eigenart des Schachspiels an seinem strategischen Kalkül nachvollziehen, geht es doch darum, sein Gegenüber zu neutralisieren, schachmatt zu setzen, das Spiel für sich zu entscheiden. Von dem vormodernen Kriegsspiel unterscheidet sich der russische Angriffskrieg allein dadurch, dass er einseitig verkündet wurde, dass an ihm mehr als zwei ungleiche Parteien beteiligt und die Ziele nicht immer klar definiert sind.

"Krieg ist nicht 'Prima', sondern Ultima Ratio."

Programmatisch möchte die gegenwärtige Weltordnung Konflikte friedlich lösen, Machtmittel dafür hat sie keine. Fester Bestandteil dieser Spielanordnung ist nicht der auf dem Schachbrett konzipierte Krieg, sondern die freiwillige gewaltfreie Konfliktlösung, die Einhaltung von Spielregeln und die Anerkennung von Grenzen. Krieg ist nicht "Prima", sondern Ultima Ratio. Im europäischen Kontext galt lange die Spielanordnung der KSZE (später OSZE), an die sich sogar die kommunistischen Diktaturen mehr oder weniger gehalten haben.

Diese Ordnung ist nicht erst seit der russischen "Spezialoperation" irreversibel zerstört. Wladimir Putins Russland verletzte schon zuvor die territoriale Integrität von Nachbarländern, nicht nur der Ukraine, sondern auch jene Moldawiens und Georgiens. Mit seinem aggressiven Revisionismus hat es die Rückkehr zum alten Territorialkrieg eingeleitet.

Spiel auf Remis

Seitdem wird Schach verkehrt gespielt. Der Westen hat lange gezögert, am Schachbrett Platz zu nehmen. Dabei unterlagen beide Seiten einem Irrtum. Putin nahm an, dass der Westen seine Kriegsspiele im eigenen Einflussbereich wie schon zuvor tolerieren würde. Viele europäische Regierungen wiederum gingen davon aus, dass Putin nicht in die Ukraine einmarschieren werde. Beide Seiten hatten nicht mit der Wehrhaftigkeit des überfallenen Landes gerechnet. So blieb nach einer Schrecksekunde aus, was alle seit Beginn der russischen Invasion befürchtet beziehungsweise erhofft hatten: die schnelle, von westlicher Empörung begleitete Einnahme der Ukraine in einem Blitzkrieg.

Die ersten Wochen des ungleichen Krieges bestätigten die Einschätzung des preußischen Strategen Carl von Clausewitz, wonach der Verteidiger gewisse Vorteile gegenüber dem Angreifer genießt. Moskau und Kiew haben dabei jeweils erkennbare Kriegsziele vor Augen. Putin und seine Strategen haben erkannt, dass sie das Nachbarland nicht auf Knopfdruck schachmatt setzen können, und deshalb ihr Kriegsziel geändert. Sie spielen auf Remis, was freilich bedeutet, dass sie ihre Kriegsbeute behielten und die Zerstörung der europäischen Friedensordnung zementiert würde. Die Ukraine, trotz territorialer Einbußen politisch und militärisch ungebrochen, hat ebenfalls ein klares Ziel: die Wiederherstellung des Status von vor 2014 und – nach dem Vorbild anderer mittel- und osteuropäischer Länder – den bisher verweigerten Beitritt zur Europäischen Union und Bestandsgarantien seitens des westlichen Verteidigungssystems.

Nulla Ratio

Weniger klar und einheitlich sind die westlichen Ziele. Der tapfere ukrainische Widerstand hat dem Appeasement einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn Wolodymyr Selenskyj davon spricht, dass der bedrohte Nachbar der EU und Russlands die westlichen Werte gegen eine postkommunistische und neoimperiale Macht verteidigt, ist das nicht bloß politische Rhetorik. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte der uneinige Westen all den Konflikten entkommen, die mit deren Implosion verbunden waren.

Nur wenigen Menschen hierzulande kommen die gewaltsamen Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens in den Sinn. Auch hier konnten die europäischen Staaten der Aggression des Angriffskriegs von Slobodan Milošević lange nur wenig entgegensetzen. Damals wie heute hat dieser linke wie rechte, gerade im deutschsprachigen Raum weitverbreitete Pazifismus, für den Krieg keine Ultima, sondern eine Nulla Ratio ist, unbeabsichtigt gewaltsamen Kriegstreibern in die Hände gespielt.

"Nicht wenige möchten sich noch immer der Tatsache entziehen, dass sie Teil des Geschehens sind, weshalb auch jede ukrainische Forderung nach effizienten Waffen zunächst auf Ablehnung, Zögern und dann auf späte Zustimmung stößt."

Die westlichen Staaten stehen vor einem Scheideweg: Sollen sie, wie es der Plan des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger nahelegt, auf ein Remis setzen und die Ukraine nur so weit militärisch unterstützen, dass es Putins Armee nicht gelingt, sich das ganze Land einzuverleiben, oder das leidgeplagte Land aufrüsten, um den von der Russischen Föderation einst selbst garantierten Status quo ante wiederherzustellen? Die westlichen Staaten, voran die hilflose deutsche Regierung, sind in diesem unappetitlichen, unwürdigen und zynischen Spiel Getriebene. Nicht wenige möchten sich noch immer der Tatsache entziehen, dass sie Teil des Geschehens sind, weshalb auch jede ukrainische Forderung nach effizienten Waffen zunächst auf Ablehnung, Zögern und dann auf späte Zustimmung stößt. Putins Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ist ein wirksames Mittel, die Ukraine daran zu hindern, den Angreifer zum Rückzug zu zwingen.

Die Vernichtung der Ukraine wäre für Europa eine ungeheure, auch humane Katastrophe – mit Genozid ist zu rechnen. Die systematische Aufrüstung der Ukraine ist vermutlich das einzige Mittel, den schrecklichen Krieg zu beenden und zu verhindern, dass der Osten Europas zu einem dauerhaften Krisengebiet vor der Haustüre wird. Möglich, dass die im Vergleich zur EU militärisch gerüsteten USA ein Machtwort sprechen werden. Dabei gerieten die politischen Interessen der EU, die im Schlepptau des großen Bruders agiert, ins Hintertreffen. Auf alle Fälle sind Intellektuelle gut beraten, sich für die Verteidigung jener Werte einzusetzen, die sie selbst repräsentieren. (Wolfgang Müller-Funk, 18.2.2023)