Politikwissenschafter Anton Pelinka schreibt in seinem Gastkommentar, dass es "für die Sicherheit in Europa eine souveräne Ukraine braucht", wie auch eine russische Demokratie, "in der nicht Memorial verboten wird und Oppositionelle in Haft genommen werden".

Der Politologe Dieter Segert fordert in seinem Gastkommentar eine "zweite Helsinki-Konferenz". Abgesehen davon, dass der vom russischen Präsidenten begonnene Krieg gegen die Ukraine die Chance auf eine solche Konferenz – zunächst jedenfalls – zerstört hat: Die Voraussetzungen sind heute ganz andere als die von 1975. Damals ging es um die Festschreibung, um die Sicherung eines Status quo. Der Kalte Krieg sollte kalt bleiben. Aber heute? Es gibt Krieg in Europa – und den führt Russland.

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Sein Einmarsch in der Ukraine sorgt auch dafür, dass Staaten wie Finnland und Schweden über einen Nato-Beitritt nachdenken: Russlands Präsident Wladimir Putin.
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Heute sind der Eiserne Vorhang, die Leonid-Breschnew-Doktrin und die von Moskau aus gesteuerte "Zweite Welt" Geschichte. Die 1989 vom Panzerkommunismus befreiten Staaten sind in der Nato, in der EU. Hätte "der Westen" ihnen das verwehren können? Hätten Nato und EU eine Breschnew-Doktrin "light" zur Einschränkung der Souveränität der eben souverän gewordenen Staaten verkünden sollen?

Es liegt im Interesse Europas, bestehende Grenzen außer Streit zu stellen. Aber Normen zur Festschreibung bestehender Grenzen existieren bereits – etwa in einem von der Russischen Föderation unterzeichneten Vertrag des Europarates. Dieser Vertrag legt fest, dass Grenzen zwischen den Staaten Europas nur im Verhandlungsweg einvernehmlich verschoben werden dürfen. Gegen diesen Grundsatz hat Wladimir Putin verstoßen – 2014 und 2022. Soll diese illegale Grenzverschiebung durch eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) II legitimiert werden? Soll Putin für seine Kriege belohnt werden?

Sieger oder Verlierer?

Im Hintergrund steht eine diffuse Wahrnehmung dessen, was 1989 und 1990 in Europa wirklich passiert ist. Wer hat im Kalten Krieg "verloren"? Verloren hat doch nicht Russland. Russland war einer der Gewinner. Russland ist aus den Trümmern der Sowjetunion wiedererstanden, nicht anders als Litauen oder Lettland oder Estland. Verloren hat ein System – der Marxismus-Leninismus. Warum identifiziert sich die Regierung der postsowjetischen Russischen Föderation mit einer Diktatur, in der ein souveränes Russland nicht vorgesehen war?

Die russische Regierung vermischt ständig ein sowjetisches Narrativ mit einem russisch-nationalen. Gegenüber der Ukraine wird das russische Narrativ genutzt – die Ukraine sei ethnisch, kulturell, religiös eigentlich russisch und deshalb zu besonderer Loyalität gegenüber Russland verpflichtet. Gegenüber dem Westen wird ein sowjetisches Opfernarrativ bemüht: Eine informelle Zusicherung der USA aus dem Jahr 1989 wird zum Anlass genommen, die "Osterweiterung" der Nato als Vertragsbruch hinzustellen.

Die Sowjetunion, der gegenüber die US-Regierung diese formlose Absichtserklärung geäußert hat, gibt es nicht mehr. Die Russische Föderation ist einer der Nachfolgestaaten der UdSSR – wie die Ukraine auch. Und vor allem: Warum fühlt sich Russland von der Nato bedroht, der Nachfolgestaaten der UdSSR angehören?

Der Eroberungskrieg gegen die Ukraine soll offenkundig von den russischen Widersprüchen ablenken. Deshalb sterben Menschen – ukrainische Zivilisten, ukrainische Soldaten, russische Soldaten.

Die Zusammenarbeit zwischen der Nato und der Russischen Föderation hätte nach 1991 besser sein können. Die Verantwortung für die fehlende Vertiefung der Kooperation muss auch der Westen übernehmen. Aber das Verhalten Putins ist paradox: Um einen Nato-Beitritt der Ukraine zu verhindern, stärkt er die Nato. Denn er sorgt für eine militärische Aufrüstung an der Nato-Ostgrenze und dafür, dass in Finnland und auch in Schweden über einen Beitritt zur Nato nachgedacht wird. Er hat nicht die Nato-Staaten des Baltikums angegriffen, sondern den Nicht-Nato-Staat Ukraine. Putin zeigt, dass die Nato-Mitgliedschaft eine Sicherheitsdividende abwirft. Russland ist die Ablösung des russisch-nationalen Narrativs vom sowjetischen Narrativ schuldig geblieben. Überall in Russland stehen Lenin-Statuen, und Lenins einbalsamierter Leichnam kann noch immer als quasireligiöses Symbol auf dem Roten Platz besichtigt werden. Aber es war doch Lenin, der eine nach der Februar-Revolution langsam aufblühende russische Demokratie gewaltsam unterdrückt hat. Ein Russland, das sich glaubwürdig auf die Interessen des russischen Volkes beruft, muss die Lenin-Nostalgie beenden – denn die ist die Sehnsucht nach der starken Hand eines brutalen Diktators.

"Putin-Versteher" Donald Trump

Was in Russland auffällt, ist die Präsenz einer nationalen Mystik, die à la Alexander Solschenizyn Russland von Aufklärung und Rationalismus freihalten will. Diese Mystik wird gelegentlich vom früheren KGB-Offizier Putin benutzt, um antiwestliche Emotionen zu schüren. Es ist kein Zufall, dass zu den prominentesten der "Putin-Versteher" im Westen Donald Trump zählt. Denn dieser erkennt in Putins Russland einen Bündnispartner im Kampf für nationale Verengung, für eine Renaissance uneingeschränkter nationaler Souveränität. Putins Russland – in einer Allianz mit Trump, zurück in die Zeit vor der Aufklärung? In eine Zeit, in der faktenbasierte Erkenntnisse als "Fake News" denunziert werden?

Europa braucht Sicherheit, und der Krieg in der Ukraine ist dafür ein eindringlicher Beleg. Aber dazu braucht es keine KSZE II. Über eine solche kann erst nachgedacht werden, wenn russische Truppen die Ukraine verlassen haben. Für die Sicherheit in Europa braucht es eine souveräne Ukraine – und eine russische Demokratie, in der nicht Memorial verboten wird und Oppositionelle in Haft genommen werden. Der Eroberungskrieg gegen die Ukraine soll offenkundig von den russischen Widersprüchen ablenken. Deshalb sterben Menschen – ukrainische Zivilisten, ukrainische Soldaten, russische Soldaten. Sie sterben, weil das Russland von heute sich der Wirklichkeit nicht stellt – nicht der gegenwärtigen russischen und nicht der vergangenen sowjetischen. (Anton Pelinka, 3.3.2022)