Die USA sind nicht mehr gewillt, im Ernstfall die militärische Führung in Europa zu übernehmen. Auch das zeigen die Ereignisse der vergangenen Wochen, sagt die Politikwissenschafterin Teresa Eder vom Washingtoner Wilson Center im Gastkommentar.

"Zum ersten Mal überhaupt wird die Europäische Union für ein Land, das unter Beschuss steht, den Kauf und die Lieferung von Waffen und anderer Ausrüstung finanzieren."
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
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Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell insistiert seit 2020, dass die Europäische Union "die Sprache der Macht wieder erlernen" muss, will sie außenpolitisch Gewicht in der Welt gewinnen und nicht zwischen China und den USA zerrieben werden. Bis vor einer Woche wurde er dafür vielerorts – mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel Paris – noch belächelt. Heute würden ihm viele Europäerinnen und Europäer zustimmen.

Seit der russischen Kriegserklärung ist nichts mehr so, wie es war. Innerhalb kürzester Zeit musste die EU erkennen, dass eine Wirtschafts- und Werteunion allein nicht ausreicht, um Autokraten davon abzuhalten, territoriale Angriffskriege zu starten. Bis dahin war die – irrtümliche – Annahme die, dass enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland der EU nicht nur monetäre Vorteile verschaffen, sondern gleichzeitig Präsident Wladimir Putin davon abhalten, es zum Schlimmsten kommen zu lassen. Nun ist es zum Schlimmsten gekommen.

Keine Wahl

Generationen – darunter meine eigene – sind in den vergangenen 30 Jahren mit dem Eindruck aufgewachsen, dass es in Europa keinen traditionellen Krieg zwischen europäischen Staaten mehr geben wird und Sicherheitspolitik daher nur von Interesse für die Rüstungsindustrie ist und maximal Migrantinnen und Migranten und Terroristen abwehren soll. Die Sicherheits- und Verteidigungsexpertin Ulrike Franke beschreibt in ihrem Essay "A Millennial Considers the New German Problem After 30 Years of Peace" pointiert, dass uns strategisches Denken und Machtpolitik, die notfalls auch mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden muss, gänzlich fremd geworden sind. Geopolitische Konflikte seien etwas für kriegsfanatische US-Amerikanerinnen und -Amerikaner, die immer noch Weltpolizist spielen wollen, aber nicht für die EU und schon gar nicht für Deutschland und Österreich.

Doch derzeit haben wir als Union keine Wahl. Wer Demokratien nur mit Worten, nicht mit Taten verteidigt, erklärt damit auch die liberale Weltordnung für bankrott. Das macht uns noch angreifbarer, als es unsere offenen Gesellschaften ohnehin schon sind. Autokraten würden die Erfolge anderer Autokraten zum Anlass nehmen, um ihre langgehegten Machtfantasien in die Tat umzusetzen.

Radikale Kehrtwende

Dieser Dynamik waren sich EU-Kommission, Staatschefs und Minister wohl bewusst, als sie am Wochenende ein unvergleichliches Paket an Sanktionen gegen Russland schnürten und erstmals in der Geschichte der Union auch Waffen zur Verteidigung eines Nichtmitglieds bereitstellten. Die 450 Milliarden Euro an Militärhilfe bezeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Wendepunkt.

Das europäische Schwergewicht Deutschland legte innerhalb weniger Tage eine radikale Kehrtwende hin, wandte sich von seiner Pazifismusdoktrin ab und verkündete eine neue Sicherheitspolitik. Waffen dürfen nun doch auch in Konfliktgebiete exportiert werden. Bundeskanzler Olaf Scholz versprach, dass das von den USA immer wieder eingeforderte Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Militärausgaben künftig erreicht und sogar überschritten werde. 100 Milliarden Euro sollen zusätzlich für Investitionen in die Bundeswehr aufgewendet werden.

"Präsident Joe Biden und seine sicherheitspolitischen Berater hoffen auf ein selbstständigeres und handlungsfähigeres Europa, das sie militärisch und politisch im Hintergrund unterstützen können."

Die Ereignisse der vergangenen Wochen haben vor Augen geführt, dass die USA nicht mehr im selben Ausmaß wie früher gewillt sind, im Ernstfall die militärische Führung in Europa zu übernehmen. Die Zusammenarbeit bleibt klarerweise über die Nato erhalten, aber wie der Fall der Ukraine zeigt, will sich die US-Regierung nicht mehr aktiv in Konflikte, die sie nicht direkt betreffen einmischen, auch weil es dafür keinen Rückhalt in der Bevölkerung gibt und China nach wie vor als der wichtigere Schauplatz im geopolitischen Wettstreit gesehen wird. Präsident Joe Biden und seine sicherheitspolitischen Berater hoffen auf ein selbstständigeres und handlungsfähigeres Europa, das sie militärisch und politisch im Hintergrund unterstützen können.

Ungewöhnliche Geschlossenheit

Ob der Krieg in der Ukraine das Selbstverständnis der EU tatsächlich verändert, wird sich erst langfristig zeigen. Derzeit kommt den europäischen Akteurinnen und Akteuren zugute, dass es selten einen Konflikt gegeben hat, in dem die Grenzen zwischen Gut und Böse so eindeutig zu ziehen sind. Selbst Ungarn hat sich der Kritik an Russland widerspruchslos angeschlossen. Das kann sich mit dem Verlauf des Kriegs ändern. Zusätzlich könnte der Druck auf Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zunehmen, Sanktionen zurückzunehmen, sobald Lebensmittel und Energiepreise explodieren. Auch die Aussicht auf einen EU-Beitritt der Ukraine könnte unter den Mitgliedsländern für Zwist sorgen.

Trotzdem ist es ermutigend zu sehen, dass die EU auf die russische Aggression mit ungewöhnlicher Geschlossenheit reagiert hat, wie es noch vor einer Woche nicht für möglich gehalten wurde. Angesichts einer Krise, die für das Friedensprojekt existenzielle Folgen haben kann, besannen sich die europäischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, dass unsere demokratische Ordnung mehr als pure Abstraktion ist und dass sie auch entsprechend verteidigt werden muss. Das gemeinsame politische, militärische und wirtschaftliche Vorgehen der Europäerinnen und Europäer projiziert eine Stärke, die in Putins strategischen Überlegungen sicherlich keine Rolle gespielt hat. (Teresa Eder, 3.3.2022)