Schule reproduziert Machtverhältnisse, sagt der Erziehungs- und Bildungswissenschafter Hans Karl Peterlini im Gastkommentar. Wie kann dennoch ein besseres Leben gelingen?

Bildungsminister Martin Polaschek will den Nachhaltigkeitsgedanken stärker im Bildungsbereich verankern. Ob das gelingen wird?
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Bei den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, die für ein besseres Leben, ja für das Überleben auf diesem Planeten fast weltweiten Konsens genießen, nehmen Bildung und Schule einen zentralen Platz ein. Sie gelten gewissermaßen als Drehtür zu allen anderen wichtigen Anliegen wie Armutsbekämpfung, soziale und globale Ungleichheit, wirtschaftliche Prosperität, Arbeit, Geschlechtergerechtigkeit, Schutz des Lebens unter Wasser und auf der Erde, Klima.

Die Hoffnung lautet: Wenn wir es schaffen, hochwertige Bildung für alle anzubieten, dann muss diese Welt doch einfach besser werden. Gut ausgebildete Menschen, die zu reflektieren gelernt haben, die zu kritischem Denken ermutigt wurden, denen die Geschichte in ihren Abgründen, die Geografie in ihren Kontrastfarben zwischen Dürre und Üppigkeit bewusst ist, müssen ja geradezu eine Gesellschaft hervorbringen, die ihren Wertekompass von Konkurrenz, Neid, Ellenbogen auf Ausgleich, Solidarität, Rücksichtnahme umstellt.

"Es versagt die Illusion, dass Schule richten kann, was rundherum schief hängt."

Wir wissen, dass dem nicht so ist. Wohl sind Lehrpläne, Schulbücher, Unterrichtsinhalte auf hehre Ziele ausgerichtet, designen die Kompetenzprofile regelrechte Wunderkinder, geben Lehrkräfte Herz und Hirn drein, um idealistische Vorstellungen zu vermitteln. Genauso zäh ist die Ernüchterung. Die Menschheit wird nicht besser, aus Kindern und Jugendlichen, die all diese Lernutopien aufgesaugt haben, werden Erwachsene, die fassungslos auf Jahrzehnte der sozialen Kälte, der Umweltzerstörung, des Raubtierkapitalismus, der eurozentrischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Rest der Welt, auf Waffendeals und Krieg zurückblicken müssen. Und wir waren dabei – sofern wir ehrlich sind; meistens sind wir das nicht.

Schule, Macht, Druck

Versagt Schule? Versagen all die schönen Papiere, die von Uno und EU zu den Bildungsministerien, von den Bildungsdirektionen zu den Schulen, von den Lehrkräften zu den Kindern und Jugendlichen durchsickern sollten? Nein: Es versagt die Illusion, dass Schule richten kann, was rundherum schief hängt. Schule steht und stand immer schon – in Österreich seit Maria Theresia – in einem engen Wechselverhältnis zu politischen, ökonomischen, sozialen Bedingungen. Schule ist Ausdruck des Lebens und der Politik um sie herum. Und Schule reproduziert, ob sie will oder nicht, genau jene Machtverhältnisse, denen sie entspringt.

Konkreter: In einer Gesellschaft, in der ökonomischer Erfolg die Werteskala anführt, wird Konkurrenz im Denken und Handeln wichtiger sein als faires Wirtschaften, bei dem ich etwas weniger Profit abschöpfe, dafür aber ein anderer weniger verliert und damit vielleicht beide gewinnen. Wo soziale Hierarchien über Symbole von Macht und Besitz hergestellt werden, wird das potente Auto attraktiver sein als das Benutzen von Öffis. Wenn Politik vorlebt, dass nicht die kommenden Jahrzehnte, sondern die Slogans für die nächste Wahl den Weg bestimmen, wird sie schwerlich erwarten dürfen, dass ihr Wahlvolk für das Leben der kommenden Generationen jetzt schon anders zu leben bereit ist. Was im Unterricht gepredigt wird oder auf bunten Arbeitsblättern hübsch dargestellt ist, hat eine sehr kurze Halbwertszeit gegenüber so dominanten Strukturen des gesellschaftlichen Lebens.

"Die Schule steht unter demselben Hochleistungsdruck, unter dem unsere Burnout-Gesellschaft steht."

Wie sollte Schule die Welt ändern können, wenn sie diese Welt spiegelt: mit einer Ordnung des Wissens, die nicht exploriert und neu gestaltet werden kann, sondern vorgegeben ist und genau jener Welt entspricht, die sie ändern müsste; mit einer Hierarchie, wer das Wissen hat und wer es für den nächsten Test möglichst auswendig lernen muss; wie sollte Schule jenes feine Hinhören, Hinschauen, Hinfühlen pflegen, das der große Bildungsdenker Humboldt als Empfänglichsein für die Welt neben das allein bestimmende Aktivsein stellte.

Wie sollte es auch anders sein, wenn Lernende und Lehrende unter einem absurden Stoffbewältigungsstress stehen, wie oft es auch heißen mag, dass es um exemplarisches Lernen an vertieften Themen geht. Die Schule steht unter demselben Hochleistungsdruck, unter dem unsere Burnout-Gesellschaft steht, es herrscht Zeitdruck, Leistungsdruck und die kühne Vorstellung, man könne Lernen mit Noten messen und bewerten. Zumindest jenes Lernen von Lebenshaltung, Empathie für Mitmenschen, Mitwelt und Umwelt ist damit nicht zu haben.

Neue Konzepte

Dass es trotzdem geschieht, dass es Aha-Effekte gibt, die auch Jahrzehnte nachwirken, verdankt sich jenen Momenten, wenn Lernende in Beziehung zueinander oder mit etwas geraten, wenn sie getroffen und betroffen sind. Meist findet dieses Lernen zufällig, ungewollt, am Rande des Geschehens statt, wird verworfen und möglicherweise auch noch mit Rotstift geahndet.

Die Uno und ihre Bildungsorganisation Unesco haben jetzt neue Konzepte nachgeschoben: Damit das vielzitierte "transformative Lernen" sich ereignen kann, müsse sich die Schule selber ändern, ihre Hierarchien, Wissensbestände, Lehr-Lern-Settings massiv der Mitgestaltung durch die Lernenden öffnen. Das wäre endlich einmal eine Schultüte mit weniger Blendwerk und mehr Hoffnung. Ob’s wieder nur Papier bleibt? (Hans Karl Peterlini, 7.9.2022)