Ex-Kanzler Christian Kern und Bezirksfunktionär Nikolaus Kowall skizzieren in ihrem Gastkommentar, wie die europäische Industriepolitik aus Sicht der Sozialdemokratie gestaltet werden sollte.

Zwischen der Wohlstandsentwicklung einer Gesellschaft und deren demokratiepolitischer Stabilität besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Europas Wohlstandsmodell ist durch eine Abfolge von Krisen unter Druck geraten. Covid, Klimawandel, Krieg und Inflation, eine massive Verschiebung von realwirtschaftlichen zu finanzwirtschaftlichen Gewinnen schaffen Abstiegserfahrungen und -ängste bis weit in die Mittelschichten hinein. Europas politische und ökonomische Zukunft wird sich wesentlich anhand der Frage entscheiden, ob es gelingt, das Wohlstandsmodell der Nachkriegszeit und das Versprechen von Frieden und gesellschaftlichem Aufstieg zu erneuern.

Das Herz der europäischen Industrie ist nicht der Verbrennungsmotor, sondern ein Ökosystem aus Ingenieurstradition, Unternehmen, Bildungseinrichtungen und staatlichen Förderungsagenturen.
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Erfolgreiche sozialdemokratische Wirtschaftspolitik hat sich stets an der Frage der Verteilungsgerechtigkeit und der Schaffung einer Wirtschaft orientiert, die nachhaltig Prosperität schafft. Die Verteilungsfrage muss ergänzt werden um eine Antwort, wie der Wohlstand erreicht werden soll, der anschließend verteilt wird.

Zwei Schlüsselaxiome sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik haben sich über die Jahrzehnte herauskristallisiert. Erstens: die demokratisch gesteuerte Gestaltung der Gesellschaft auf Basis des Funktionsprinzips der Marktwirtschaft. Das bedeutet, die Gesellschaft bestimmt demokratisch, wohin die Reise geht, die Operationalisierung erfolgt jedoch durch einen regulierten Markt. Im Parteiprogramm der SPÖ von 1978, also zum Höhepunkt sozialdemokratischen Einflusses in Österreich, wurde festgehalten, dass der Markt ein wesentliches Funktionsprinzip ist, um gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Zweitens: Die soziale Marktwirtschaft ist ein Hybrid aus Markt und Demokratie. Dort, wo der Markt nicht funktional ist, soll die Demokratie ihn durch andere Formen ersetzen – zum Beispiel durch ein öffentliches Gesundheitssystem.

Klare Vorgaben

Heruntergebrochen auf eine zeitgenössische Wirtschaftspolitik geht es um den Aufbau eines ökologisch nachhaltigen Industriemodells. Gemäß Axiom 1 macht die Demokratie hier auf europäischer und nationaler Ebene klare Vorgaben, wohin die Reise gehen soll. So verbietet die EU etwa Verbrenner mit herkömmlichem Treibstoff ab 2035. Das ist eine sinnvolle Maßnahme zur gesellschaftlichen Steuerung. Die EU sagt aber nicht, wie die Unternehmen dieses Verbot umsetzen sollen. Sie vertraut, mit dem großen österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter gesprochen, darauf, dass die Privatwirtschaft Innovationszyklen durchlaufen wird, die bis dahin adäquaten Ersatz schaffen.

Und dieser Zugang ist der große Unterschied zum Technologiekonservatismus eines Bundeskanzlers Karl Nehammer, der glaubt, der Verbrennungsmotor sei das Herz der europäischen Industrie. Das, was die europäische Industrie wirklich ausmacht, ist kein konkreter Gegenstand, sondern ein gewachsenes Ökosystem – nämlich die 150-jährige Ingenieurs- und Tüftlertradition, innovative Unternehmen, die Kooperation von Schulen, Unis, staatlichen Förderagenturen.

"Der große Unterschied zum Technologiekonservatismus eines Bundeskanzlers Karl Nehammer."

Ein Beispiel: Im Maschinenbau, also in der Branche, die an der Spitze der industriellen Wertschöpfungskette steht, sind allein in Deutschland so viele Menschen beschäftigt wie in den USA, nämlich eine Million. In der ganzen EU sind es sogar knapp drei Millionen. Diese hochqualifizierte Arbeitnehmerschaft ist das Herz der europäischen Industrie, wie Unternehmensumfragen bestätigen. Ob die Fachkräfte in den drei großen europäischen Industrien – Kfz, Chemie und eben Maschinenbau – nun für den Verbrenner eingesetzt werden oder für Elektroautos, für die Herstellung von Ölheizungen oder von Pelletsheizungen, für die Errichtung von Kohlekraftwerken oder von Windparks, ist im Grunde egal.

Schöpferische Zerstörung

Manche Firmen mögen die Umrüstung schaffen, manche nicht, neue werden entstehen. Schöpferische Zerstörung nennt Schumpeter diesen Prozess. Entscheidend ist nur, dass das technologische Know-how dabei nicht verlorengeht – und dass ein umfassender Wohlfahrtsstaat von der Existenzsicherung bis zur Umschulung für alle bereitsteht, die von diesem Umbruch persönlich betroffen sind. Es geht für Europa um ein industriebasiertes Wohlstandsmodell, in dem die Demokratie den ökologischen und sozialen Rahmen setzt.

Aus sozialdemokratischer Perspektive ist selbstverständlich, dass parallel dazu der Arbeitsmarkt reguliert ist. Kollektivverträge, Mindestlöhne und Arbeitsrecht sorgen nicht nur für einen fairen Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Kuchen, sondern auch für gute Arbeitsbedingungen. Das alles entspräche Axiom 1, also der demokratisch gesteuerten Gestaltung der Gesellschaft auf Basis des Funktionsprinzips der Marktwirtschaft.

Wünschenswerte Auflagen

Axiom 2 betont den Hybrid aus Markt und Staat. Soll der Staat parallel selbstständig tätig werden? Das muss er sogar, weil die gesamte öffentliche Verkehrsinfrastruktur, die wir für die Mobilitätswende brauchen, direkt vom Staat umgesetzt und finanziert werden muss, aber natürlich wieder mithilfe privater Unternehmen, die dann eben Komponenten für Hochleistungsweichen oder innovative Tunnelbautechnologien beisteuern. Es gibt aber noch ein breites Feld, wo Staat und Unternehmen direkt kooperieren sollten. Etwa wenn es darum geht, HTLs, Fachhochschulen oder die Lehre mit Matura an den Herausforderungen einer nachhaltigen Industrie zu orientieren.

Und staatliche Zuschüsse oder Darlehen sollten gemäß Mariana Mazzucato, der Koryphäe zeitgenössischer Industriepolitik, an gesellschaftspolitisch wünschenswerte Auflagen wie Emissionsreduktion geknüpft sein. Der Staat könnte sogar so weit gehen, Standorte, die von Schließung bedroht sind, aber dennoch viel Potenzial haben – siehe den MAN-Standort Steyr vor zwei Jahren – zu übernehmen, um dort Innovationen zu testen, für die die Privatwirtschaft einen zu kurzen Atem hat. Mazzucato spricht von der Notwendigkeit von "geduldigem" Kapital, das nicht dem kurzfristigen Denken des Finanzkapitalismus unterworfen ist.

"Dem Staat kommt gerade bei kostspieligen und langfristigen Basisinnovationen eine wichtige Rolle zu."

Der Anteil der Innovationen, die scheitern, liegt zwischen 70 und 95 Prozent. Aber, wie Schumpeter schon betonte, dieses Trial and Error zahlt sich allemal aus, um die wenigen erfolgreichen Innovationen zur Entfaltung zu bringen. Und dem Staat kommt gerade bei kostspieligen und langfristigen Basisinnovationen eine wichtige Rolle zu. Internet, GPS, Mikroprozessoren und Touchscreens kommen alle aus staatlichen Laboren und nicht aus dem Silicon Valley, wie Mazzucato nachweist.

Unterm Strich sollte sich eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts darauf fokussieren, die industrielle Produktion als Rückgrat des österreichischen und europäischen Wohlstandsmodells zu begreifen, vor klaren Interventionen in Richtung Nachhaltigkeitswende aber nicht zurückschrecken. Es ist vielmehr eine Voraussetzung für die dringend notwendige Entkopplung von Wachstum und CO2-Emissionen. (Christian Kern, Nikolaus Kowall, 25.4.2023)