In seinem Gastkommentar stellt der Kulturtheoretiker Wolfgang Müller-Funk Überlegungen zur Krise (nicht nur) der österreichischen Sozialdemokratie an.

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Es ist fast genau vierzig Jahre her, dass der liberale britisch-deutsche Soziologe Ralph Dahrendorf seine prägnante Diagnose vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts vorgelegt hat. Dahrendorf argumentierte, dass es paradoxerweise der durchschlagende Erfolg des sozialdemokratischen Projekts gewesen sei, der zu dieser Situation geführt habe: Die demokratische Linke habe sich zu Tode gesiegt und uns alle mehr oder weniger zu Sozialdemokraten gemacht.

"Das Jahrhundert war sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden."
Ralph Dahrendorf, Soziologe und FDP-Politiker, im Jahr 1983

Ob das nun stimmt oder nicht, darüber lässt sich trefflich streiten. Schwer zu bestreiten ist, dass die Sozialdemokratie nicht nur die soziale und ökonomische Stellung der Arbeiterschaft gestärkt, sondern diese auch in die einst als "bürgerlich" geschmähte Demokratie integriert hat. Die gegenwärtige Krise der Sozialdemokratie in Österreich, aber auch in anderen Ländern (Frankreich, Italien, den Niederlanden) zeigt, dass Dahrendorfs Befund insoweit aktuell ist, als die Frage nach Ort und Aufgaben der Sozialdemokratie nach dem Ende ihrer glorreichen Zeit ungeklärt geblieben ist. Niemand weiß so recht, wie es weitergehen soll: weiterwurschteln wie bisher, nach rechts blinken? Nostalgische Rückkehr zu Marx? Oder Neuanfang?

Mangelnde Fantasie

Dahrendorfs These leidet an einem Mangel an historischer Fantasie. Denn dass ein Projekt der Sozialdemokratie zu Ende geht, bedeutet nicht, dass keine neuen Herausforderungen anstehen. Es ließe sich vierzig Jahre später korrigierend folgende Diagnose stellen: Zwischen dem Bedarf an Sozialdemokratie und ihrem gegenwärtigen Zustand besteht eine erstaunliche Kluft.

Sozialdemokratische Ideen sind gefragt, um die schmerzhafte ökologische Transformation der Gesellschaft angesichts einer ökonomischen Situation, die anders als in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht mehr von Wachstum und steigendem Wohlstand insbesondere benachteiligter Gruppen begleitet ist, erträglich zu gestalten. In dieser schwierigen Situation muss es so etwas wie einen Pakt zwischen den sozial Schwächeren und den Stärkeren geben.

Unbequeme Wahrheiten

In einer sich zunehmend atomisierenden Gesellschaft werden Zusammenhalt und wechselseitige Solidarität zu einem elementaren Gut, das für das Überleben dieser Demokratie mit Parlament, freien Medien und unabhängiger Justiz maßgeblich ist. Die Sozialdemokratie ist in dieser nicht länger nur bürgerlichen Demokratie längst angekommen. Womöglich steht dieser sozialen Demokratie noch der Härtetest bevor, muss sie doch erst den Beweis erbringen, dass sie nicht nur bei Schönwetterlage stabil ist, sondern imstande, selbstdestruktiven Tendenzen, autoritären Versuchungen, ganz rechts, aber auch ganz links, entgegenzutreten.

Historisch besehen ist die Sozialdemokratie wie die repräsentative Demokratie ein Kind der Aufklärung. Deren kritische Neubestimmung ist ein Gebot der Stunde. Irrationale Schwurbeleien, Verschwörungstheorien, Identismus, Sprachkontrolle, Endzeitfantasien, überbordender Moralismus, Wokismus und neue Wehleidigkeit sind Symptome einer Gesellschaft, in der anscheinend nicht mehr hart, aber anständig, vernünftig und maßvoll über gemeinsame Probleme diskutiert werden kann und in der auch keine unbequemen Wahrheiten ausgesprochen werden.

Verlockung Marxismus

Insofern ist es verlockend, zum Marxismus zurückzukehren, einer rationalistischen Doktrin allemal. Zur Paradoxie der Situation gehört, dass sich mit der von Marx entwickelten Analytik zeigen lässt, dass dieser angesichts der veränderten gesellschaftlichen "Basis", des dramatischen Unterschieds zwischen der Industriegesellschaft von gestern und der digitalen Gesellschaft von heute, anachronistisch geworden ist. Ohnehin ist der Marxismus beileibe keine einheitliche Doktrin mehr. Vielfach stand sein Absolutheitsanspruch – nicht nur bei seinen totalitären Erben – in einem Spannungsverhältnis zum Regelwerk einer pluralen Demokratie.

Stärke wie Schwäche der Sozialdemokratie war, dass sie sich fast immer immanent bewegte. Einer heute weitverbreiteten antikapitalistischen Rhetorik zu folgen könnte dazu führen, diesen Standort zugunsten eines vagen transzendenten Versprechens aufzugeben. Für eine kleine linkspopulistische Partei, die sich als Korrektiv begreift, mag das angehen, für eine demokratische Linkspartei, die die Machtfrage stellen will, wäre es fatal. Nicht nur für sie.

"Eigentlich schade, dass so wenige bei der Mitgliederbefragung ihr Kreuz für die vierte Option gemacht haben."

Eigenartigerweise ist die Sozialdemokratie mehr oder minder auf Europa beschränkt geblieben. Wenn sie Europa und die global gewordene Welt maßgeblich mitgestalten will, muss sie sagen können, wohin die Reise mit Blick auf eine geduldige und hartnäckige Sozialdemokratisierung der globalen Welt geht. Sollte sich die Sozialdemokratie diesen unbequemen Fragen nicht stellen, werden andere höchst problematische, nämlich populistische Antworten geben. Eigentlich schade, dass so wenige bei der Mitgliederbefragung ihr Kreuz für die vierte Option gemacht haben. Wessen die demokratische Linke nämlich bedarf, ist kein nostalgisches Beschwören unbestrittener historischer Leistungen, sondern Bestandsaufnahme, Arbeit an Programm und Profil. (Wolfgang Müller-Funk, 3.6.2023)