Noch immer halten ÖVP-Politiker die frühe Auslese für sinnvoll. Worauf diese Beurteilung beruht, ist schleierhaft, sagt Bildungsexperte Karl Heinz Gruber im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch die Gastkommentare von Rudolf Taschner, Barbara Herzog-Punzenberger und Petra Vorderwinkler.

Neu im Amt und klar auf ÖVP-Linie: Für Bildungsminister Martin Polaschek ist das aktuelle System, "das Kompetenzen in den Vordergrund stellt und Leistungen transparent macht, in seiner derzeitigen Form sinnvoll".
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Vor genau 50 Jahren erschien das Buch Ausleseschule oder Gesamtschule? des Innsbrucker Erziehungswissenschafters Peter Seidl. Diese Publikation war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens verknüpfte sie die bis dahin provinziell dahindümpelnde österreichische Schulreformdebatte mit dem internationalen Diskurs. Und zweitens ging sie "evidence-based" vor, indem sie sich bemühte, aus dem Bauch kommende Meinungen und treuherzige Behauptungen durch empirische Daten und rationale Argumente zu ersetzen.

Seidl und sein Team (ich war Teil davon) konstatierten eine europaweite Infragestellung der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Ausleseschulsysteme und die in manchen Ländern (Frankreich, Deutschland) begonnene, in anderen (Schweden, Italien) bereits vollzogene Umwandlung der Sekundarstufe I, also der fünften bis achten Schulstufe, in Gesamtschulen. Die Gründe und Motive dieser Strukturreform waren in allen Ländern sehr ähnlich. Schulforschung, Pädagogische Psychologie und Bildungssoziologie hatten massive Belege produziert, dass die herkömmliche frühe schulische Auslese

· unverlässlich ist, weil sich die Begabungs- und Interessenprofile der meisten Kinder erst mit der Pubertät konsolidieren;

· soziale Segregation begünstigt, weil sie sowohl den "Sozialisationsbonus" von bildungsnahen Mittelschichtkindern als auch den "Sozialisationsmalus" von bildungsfernen Unterschichtkindern verstärkt;

· in den Schulformen der Sekundarstufe I unterschiedliche Schulkulturen erzeugt, was "Durchlässigkeit" weitgehend auf Abstufung reduziert;

· das Schulsystem volkswirtschaftlich sehr teuer macht, weil sie Begabungen vernachlässigt und einen effizienten Einsatz von Personal und Schulgebäuden erschwert, und somit

· die Realisierung des demokratischen Grundrechts auf Bildung für viele Kinder unmöglich macht.

Flankierende Maßnahmen

Nirgendwo war man so naiv zu glauben, dass eine bloße Umwandlung der Schulstruktur zu einer Gesamtschule das Allheilmittel für alle schulischen Mängel und Herausforderungen sein könnte. Die Verlängerung der gemeinsamen Schullaufbahn galt zwar als unabdingbar, erforderte jedoch zwei flankierende Maßnahmen: innerschulisch die Gestaltung des Lerngeschehens nach dem Prinzip "So viel Integration und gemeinsames Lernen wie möglich, so viel Differenzierung und Individualisierung wie für die Entwicklung begabungsgerechter persönlicher Bildungsprofile notwendig"; standortspezifisch eine gezielte, indexbasierte Zusatzfinanzierung für Schulen mit besonders herausfordernden Einzugsgebieten. In vielen Ländern wirkte die Strukturreform als Auslöser von Reformen der Curricula und der Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

Neoliberale Denkschule

In den vergangenen Jahrzehnten fand in einigen Ländern, darunter England und Schweden, eine Erosion des Gesamtschulkonzepts statt, aber nicht etwa deswegen, weil es sich als untauglich erwiesen hat oder wissenschaftliche Befunde dagegen gesprochen haben, sondern weil das Gespenst des europaweiten Neoliberalismus mit seiner Gleichgültigkeit gegenüber Solidarität und Chancengleichheit, der Betonung von Konkurrenz zwischen Schulen und der Umdefinition von Bildung vom demokratischen Grundrecht zu einer "marktgängigen Ware" die Schulsysteme und die nationalen Bildungsdiskurse schwer in Mitleidenschaft gezogen hat.

Wie wenig evidenzbasiert die österreichische Bildungspolitik nach wie vor ist, belegt die im STANDARD präsentierte Befragung der Bildungssprecher der Parteien ("Wann sollen sie getrennt werden?"). Dass die FPÖ kein Interesse an einer Schulreform hat, überrascht wohl niemanden. SPÖ, Neos und Grüne sind zwar im Prinzip für eine gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht, aber so wichtig, dass sie zu einer Conditio sine qua non einer Koalition mit der ÖVP gemacht worden wäre, war sie seinerzeit der SPÖ und ist sie gegenwärtig den Grünen auch wieder nicht.

Keine Empirie

Und die ÖVP? Angesichts der Weigerung von Generationen von ÖVP-Bildungspolitikerinnen und -politikern, die schädliche Wirkung der frühen Auslese zur Kenntnis zu nehmen, drängt sich – in Anlehnung an die Studie Die Unfähigkeit zu trauern des Ehepaares Mitscherlich – die Diagnose "Die Unfähigkeit zu lernen" auf. Eine Übertreibung? Nein. Sowohl ÖVP-Bildungssprecher Rudolf Taschner als auch der neue ÖVP-Bildungsminister Martin Polaschek halten die frühe Auslese für sinnvoll. Worauf diese Beurteilung beruht, ist schleierhaft, denn sie können sich weder auf den Fundus empirischer Daten berufen, den die europäische Bildungsforschung seit den 1960er-Jahren akkumuliert hat, noch auf die seit 2009 alle drei Jahre erscheinenden österreichischen Nationalen Bildungsberichte, die klar und deutlich die negativen Folgen der frühen Auslese aufzeigen.

Stress und Fehlprognosen

Hält Minister Polaschek tatsächlich den Stress und das Leid in Familien mit Kindern in der dritten und vierten Volksschulklasse, die zahlreichen Fehlprognosen zukünftigen Schulerfolgs, die mit früher Auslese einhergehende soziale Segregation und die hohen Kosten und Ineffizienz der Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I für sinnvoll? Wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage, warum die ÖVP den Minoritenplatz als Refugium für (Vize-)Rektoren verwendet, die, unangekränkelt von Bildungsforschung und Schulpraxis, zur Abwechslung mal etwas anderes machen wollen, anstatt sich endlich um eine Bildungsministerin mit Charisma, Visionen, Leadership, bildungswissenschaftlicher Kompetenz und pädagogischer Bodenhaftung zu bemühen? (Karl Heinz Gruber, 1.2.2022)