Die Österreicher scheinen durch die Jahrzehnte des Friedens und der Freiheit in trügerischer Sicherheit ermattet, sagt die ehemalige österreichische Außenministerin Ursula Plassnik im Gastkommentar.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat Wut und Bestürzung hervorgerufen. War der Westen zu gutgläubig?
Foto: EPA / Etienne Laurent

Wladimir Putin, russischer Präsident, hat seinen Platz in der Geschichte der Menschheit am 24. Februar 2022 für immer fixiert. An diesem Tag hat er sich eingereiht unter die großen Kriegsverbrecher Europas. Er hat einen Angriffskrieg losgetreten, seinen Nachbarn mit der vollen Wucht seines riesigen Militärapparats überfallen, die Ukraine in den Würgegriff genommen, zu Land, in der Luft und zur See. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit wurde Russland vom eigenen Präsidenten zum Aggressor gemacht, wurden seine Soldaten und seine Bevölkerung missbraucht, seine Regierung gedemütigt. Das Völkerrecht ist klar: Die massive Drohung und Anwendung von Gewalt, der Verstoß gegen das Interventionsverbot, Landraub, die Missachtung der elementarsten Menschenrechte im eigenen Land und überall dort, wo russische Gewalt regiert – im Falle der Ukraine trägt das alles einen Namen und ein Gesicht. Die Liste der internationalen Straftaten des Wladimir Putin ist niederschmetternd. Es sind Lehrbuchbeispiele für Rechtsbruch und Führungsverbrechen.

Nicht immer wird die Geschichte von den Gewalttätern geschrieben. "Memorial" kann man verbieten, aber Erinnerung nicht. Selbst wenn Putin nie vor Gericht stehen sollte, vor dem Urteil der Geschichte gibt es für den Hobbyhistoriker kein Entrinnen.

Dabei hat der Gewalttäter aus seinem Herzen wahrlich keine Mördergrube gemacht. Vor den Fernsehkameras der Welt hat er seine krausen Ideen und zerstörerischen Pläne bis ins Detail ausgebreitet. Geradezu zwanghaft, wie besessen. Ein Exhibitionist der Zerstörungswut. Wird das eigene Volk die alles verhöhnende Umkehr von Täter und Opfer im Jahre 2022 tatsächlich einfach so hinnehmen? Weiß Putin wirklich, was die Jugend denkt, wo für die Zukunftsträger die Grenzen des Erträglichen liegen?

Und wir, wo waren wir? Wie konnten wir Europäer nur übersehen, was vor unseren Augen ablief? Warum fallen wir so gerne herein auf dreiste Lügengebäude? Warum sind gerade wir so anfällig für Wunschdenken und Manipulation? Und was macht uns zu unverbesserlichen Beschwichtigern? Warum können wir Feind und Freund immer noch nicht unterscheiden, aller historischen Erfahrung und Erziehung zum Trotz? Im Gegensatz zur russischen Bevölkerung sind wir nicht betäubt vom jahrelangen Sturm der staatlichen Propagandamedien.

Auch die Wirtschaft arbeitet übrigens nie im luftleeren Raum, schon gar nicht im Osten des Kontinents. Risikoeinschätzung muss für jedes Unternehmen auch politische Gefahren realistisch einpreisen. Und die sind nun einmal in autoritären Regimen wegen deren Unberechenbarkeit unvergleichbar höher als anderswo.

Jahrzehnte des Friedens und der Freiheit haben uns Österreicher in trügerischer Sicherheit ermatten lassen. Wer von uns spürt wirklich noch, dass weder Freiheit noch Frieden selbstverständlich oder gar gratis sind? Könnte es eine Mischung aus Überheblichkeit, Vergesslichkeit und Selbstgerechtigkeit sein? Verausgaben wir uns in Wohlstandsmehrung und Gleichheitsfantasien? Wird Gier zu einer Art Tugend hochstilisiert ("Hol dir, was dir zusteht")? Die Programme unserer politischen Parteien sehen einen Feind von außen längst nicht mehr vor. Herzenswunsch und zugleich oberstes operatives Gebot ist "Ruhe". Nur keine Wellen schlagen. Nur kein Aufsehen, keine Störenfriede. Unser liebstes Kleidungsstück ist die Tarnkappe, die hierzulande häufig Neutralität heißt.

Auf Dauer hat man nur, was man auch zu verteidigen bereit ist. Es reicht nicht, sich für Uiguren und Tibeter einzusetzen, für Alexeij Nawalny und "Memorial". Engagement ist auch daheim gefragt, für die eigene Gesellschaft. Beispielsweise für die scheinbar so altmodischen Aufgaben des Staates wie Verteidigung und Sicherheit. Aber welcher junge Österreicher wäre tatsächlich bereit, im Namen Europas für Frieden und Freiheit in einen Krieg zu ziehen? Wer fühlt sich wirklich betroffen von dem, was wir dieser Tage auf dem Fernsehschirm sehen? Nur mehr die todesmutigen jungen Ukrainer und Belarussen? Bei uns bringen Gegner des Coronavirus unter der gefälschten Flagge der Freiheit wöchentlich Zigtausende auf die Straße. Wo aber sind die Massen, die im Namen von Freiheit und Frieden gegen den brutalen Überfall auf die Ukraine demonstrieren?

Wendezeit. Aufwachzeit? (Ursula Plassnik, 26.2.2022)