Im Engadin heißt sie nur "die Königin der Alpen", die Arve – ein Nadelbaum, den die Österreicher als Zirbe und die Deutschen als Zirbelkiefer kennen. Im Alpenraum steht der Baum als Symbol für Ausdauer, Kraft und Lebensmut. Er kann Temperaturen von 40 Grad unter null genauso widerstehen wie schweren Schneelasten, an heißen Tagen sondert der Nadelbaum ein ätherisches Öl ab, das ihn vor zu viel Sonneneinstrahlung schützt.

Lej da Staz, Engadin, St. Moritz, Schweiz
Vom Stazersee geht es hoch hinauf zu den ältesten Arven der Schweiz.
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Die älteste Arve des Engadin und vermutlich der gesamten Schweiz steht in einem Wald nahe dem Millionärsauffanglager St. Moritz. Wissenschafter gehen von einem Alter zwischen 900 und 1.200 Jahren aus, genauer können sie es nicht bestimmen. Am Stazersee geht es los, 1.800 Meter über dem Meeresspiegel. Die erste Etappe führt durch Wald auf einer Forststraße. Kiefern spenden Schatten, die Bergluft bläst die Lungen auf. Ein Warnruf hallt durch den Wald: ein Tannenhäher, so etwas wie der beste Freund der Arve.

Zwischendurch mäandern die Gedanken. Der Arve werden sagenhafte Kräfte zugeschrieben. Ihr Geruch beruhigt den Menschen, sein Puls verlangsamt sich beim Einatmen. Das würzige Holz hält im Sommer die Frische drinnen und winters die Kälte draußen. Ein Tee aus den Nadeln hilft bei Harnwegserkrankungen, der aus dem Baum gewonnene Schnaps gegen Magen-Darm-Beschwerden, und eine Tinktur aus dem Zapfen soll Gelenksschmerzen lindern.

Der Weg führt nun über eine Wiese, im Winter nutzen die Skilangläufer sie als Loipe, im Sommer grasen die Kühe auf der Alm. Der Pfad verengt sich, es geht eine knappe Stunde ordentlich bergaufwärts, auf knapp 2.300 Meter. Am Wegesrand mehren sich nun die Arven, knorrige Bäume, die erst nach 60 Jahren anfangen zu blühen. Und dann steht sie plötzlich vor einem: die Königin der Königinnen.

Ein majestätischer Riese, der linker Hand des Wegs seine Krone in den Himmel schiebt. Der Stamm sieht aus, als würden hölzerne Krakenarme aus dem Boden schießen, sich in die Höhe winden und verzweifelt gen Himmel streben. Wenn man sich an ihn lehnt, ihn versucht zu umarmen, strahlt die Energie der Arve auf ihre Umgebung ab. Augen zu, gegen den Stamm drücken, einatmen. Es kribbelt, es summt, es wirkt. Oder? (Ulf Lippitz, 26.2.2024)