Vor zwei Stunden hat jemand den wolkigen Tag ausgeknipst und es Nacht über Venedig werden lassen. Kurz darauf hat irgendwer in Windeseile einen Vorhang vor die Palazzi an den Kanälen gezogen, vor die kleinen Handwerkerhäuser im Cannaregio-Viertel, die Kirchen, die Gondeln an den Kais. Durch den Dunst glimmen nur noch matt die Positionslichter eines Linienschiffs auf dem Canal Grande. Immer wieder lässt der Kapitän das Nebelhorn tuten, während das Boot fast unsichtbar bleibt und bald ganz verschwindet.

Betrieb auf dem Canal Grande von der Accademia-Brücke aus gesehen
Betrieb auf dem Canal Grande von der Accademia-Brücke aus gesehen
Helge Sobik

Irgendwo schallen derweil ein paar Strophen Musik aus einem offenen Fenster. Der Wind greift sich die Töne, verteilt sie in der Nachbarschaft, wirft sie über eine dunkle Brücke auf die andere Seite eines kleinen Kanals. Und irgendwie ist es, als fiele immer mehr von diesem fast undurchsichtig gewebten Vorhang vom Himmel. Längst müsste er sich auf dem Pflaster der Gassen türmen, und immer noch senkt sich unaufhörlich mehr davon herab. Noch Stunden wird es so gehen.

Die Kapitäne, die Gondolieri, die paar Menschen auf den Straßen, die anderen zu Hause: In Venedig kennen sie das, es ist ganz normal ab November. Immer wieder holt sich der Nebel, der meist zuerst draußen auf See aufzieht, die Stelzenstadt in der Lagune an der Adria. Geheimnisvoll ist das, ein bisschen gruselig sogar. Und Zauber hat es: Es ist die schönste Zeit in Venedig, weil die Effekte zusammenpassen, die Mischung aus Lichtern und Schleier, die Melancholie zur Bausubstanz.

Wunden kaschieren

Der Zeitpunkt lässt sich nicht vorherbestimmen, niemand garantiert eine Wetterlage. Für die, die den Nebel während ihres Aufenthalts erleben, ist er Belohnung. Er kaschiert viele Wunden dieser Stadt und scheint sogar die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben, macht Antennen und Reklamen unsichtbar.

Am nächsten Morgen scheint die Kirchenglocke anders zu klingen: leichter, heller, beschwingter. Alles Einbildung. Aber der Nebel ist weg, wie so oft: Er war das Phänomen eines Abends, einer Nacht, dann ist der Vorhang verschwunden. Wie schön, dass er da war. (Helge Sobik, 13.11.2023)